zur
startseite
zum
archiv
Der
Fluss
Die Monotonie des
langen Moments
Metaphorische Dichte durch äußerste
Reduktion: In "Der Fluss" kultiviert der in Taiwan arbeitende Regisseur
Tsai Ming-Liang eine Form von Sprach- und Ereignislosigkeit, die auf Ästhetizismus
und Utopie verzichtet. Damit geht er weiter als alle anderen Vertreter des neuen
ostasiatischen Autorenfilms
Es gibt diese eine, fast absurde Szene in Tsai Ming-Liangs
Film "Der Fluss", in der, obwohl sie mit der gleichen Stoik vorübergeht
wie jede andere Szene des Films, eine tiefe Tragik steckt. Am Ufer eines verschmutzten
Flusses dreht ein Filmteam die Szene eines Leichenfundes, mit einem Dummy als
Leiche. Die Regisseurin ist nicht zufrieden. Wieder und wieder lässt sie
die Puppe in die braune Brühe schmeißen, ohne dass die Einstellung
an Realismus gewinnt. Ein kurzer Monolog über die Vor- und Nachteile eines
Dummys im Vergleich zu einem echten menschlichen Körper entwickelt sich,
aber keiner aus dem Drehteam wagt, in das Dreckwasser zu steigen. Die Monotonie
dieses langen Moments ist verstörend. Schließlich lässt sich
Xiao-Kang, der sich von einer alten Schulfreundin an den Drehort hat mitschleppen
lassen, dazu überreden, die Leiche zu spielen. Die Szene ist mit einem
Take im Kasten. Später dann haben er und die junge Frau Sex auf einem Hotelzimmer.
Die etwa zehnminütige Szenenabfolge führt
den Exkurs der Regisseurin über die Unterschiede von toten und lebendigen
menschlichen Körpern ad absurdum. Denn ob bei der ersten Begegnung mit
seiner Schulfreundin auf der Straße, beim Sex oder in seiner Rolle als
Toter: Xiao-Kang wirkt gleich leblos, seine Teilnahme am gesellschaftlichen
Leben beschränkt sich auf seine physische Anwesenheit. Verbale Kommunikation
ist unmöglich.
Mit "Der Fluss" scheint Tsai Ming-Liang
das Kino in einen Rohzustand zurückgeführt zu haben. Die Dysfunktionalität
der sozialen Praktiken hat er in eine in sich koheränte Filmsprache übertragen.
Die langen Wege seiner Figuren führen bei ihm immer wieder ins Nichts,
werden unterbrochen und aufgelöst von harten Schnitten, die keine räumlich
und zeitlich logischen Anschlüsse finden. Auf Aktionen in diesem sozialen
Raum folgt nur selten eine Reaktion, und wenn, bleibt sie Ausdruck einer tief
verankerten Unsicherheit.
Mehr als alle Filme des ostasiatischen Autorenkinos,
die in den letzten Jahren den Weg in die europäischen Kinos gefunden haben
("Der Fluss" kommt spät, bereits 1997 hat er auf der Berlinale
den Silbernen Bären gewonnen), kultiviert "Der Fluss" eine Form
von Sprach- und Ereignislosigkeit, die sich jedem Ästhetizismus verweigert.
Sie verweist auf nichts als die Mittelbarkeit der verhaltenen Gesten und der
Gegenständlichkeit des Bildes, innerhalb dessen Frame wiederum sich eine
fast kulturlose Ödnis erstreckt. Man meint, den bohrenden Blick Antonionis
in den überlangen Plansequenzen erkennen zu können oder in den Anflügen
skurriler Komik die stumme Verzweiflung eines Jacques Tati, aber diese vagen
Orientierungsmarken bleiben zu unvereinbar, als dass sich von ihnen eine ästhetische
Konzeption ableiten ließe. Ming-Liangs naturalistisch karge Bilder verweigern
jede Anteilnahme und verstoßen den Zuschauer auf einen weit ausgelagerten
Voyeursposten, von dem aus es unmöglich wird, sich dem Anblick des Elends
zu entziehen. Dieses Spannungsverhältnis verschafft Ming-Liangs Bildern
etwas kontrolliert Gewalttätiges, weil sie permanent in private Sphären
vorstoßen und dort meist unerträglich lange verweilen.
Die Privatsphäre Familie ist in "Der Fluss"
längst dysfunktional. Ming-Liang führt einen Jungen, einen Mann und
eine Frau ein, die erst nach einer halben Stunde an einem Ort zusammenkommen
und wohl so etwas wie eine Familie darstellen sollen. Persönlichen Kontakt
gibt es nicht und nicht einen Anflug von Emotionalität. Die erste Begegnung
von Junge und Mann, Sohn und Vater, findet auf offener Straße statt, der
Junge passiert den Mann einfach auf seinem Motorrad. Es wird nicht das einzige
Mal sein, dass sie aneinander vorbeilaufen. In einer späteren Szene in
einem Einkaufszentrum zeigt Ming-Liang ihr gegenseitiges Meiden und Ausweichen
als die hilflose Choreografie eines Verständigungsproblems. Das Ringen
um Nähe und Distanz wird wie in einem abstrakten Tanztheater bildlich gemacht.
Auch zwischen Mann und Frau existiert keine Beziehung
mehr. Xiao-Kangs Vater sucht körperliche Nähe anderer Männer
in den Séparées eines Saunabads. Seine Frau hat seit langer Zeit
einen Liebhaber, der in einer nicht weiter geklärten Funktion in der Pornobranche
arbeitet. Die Unterschiede der sexuellen Reize könnten nicht größer
sein: Vaters Avancen sind sinnliche Schattenspiele im Halbdunkel, mehr eine
Ahnung von Bewegung als sexueller Akt und in ihrer visuellen Weichheit ein fast
metaphysisches Erlebnis. Die Sexualität der Mutter dagegen existiert nur
noch im Zusammenhang mit den Pornos ihres Liebhabers, der in seiner Wohnung
Videogeräte und Monitore wie eine multimediale Installation errichtet hat.
Für den sexuellen Kontakt muss die Apparatur der Lustproduktion erst überwunden
werden.
"Der Fluss" ist der formal puristischste
Film eines neuen ostasiatischen Autorenkinos. Seit etwa Mitte der Neunzigerjahre
ziehen sich die Themen Isolation, Entfremdung, soziale Desolation, Gewalt und
Kommunikationsstörung durch eine Großfestival-kompatible Gattung
des japanischen, koreanischen, chinesisch-taiwanesischen, vietnamesischen etc.
Autorenfilms, ohne dass mehr als eine ausgefallene regionale Eigenart, ein bestürzender
Exotismus in der Spezifität dieses Gefühlshaushalts erkannt wurden.
Wobei die Auswahlkriterien der internationalen Festivalgremien vielleicht eher
Rückschlüsse auf unsere eigene Befindlichkeit als irgendeine asiatische
ziehen lassen.
Ming-Liang hat in "Der Fluss" die großen
Themen des neuen ostasiatischen Films mit einer formalen Strenge komponiert,
wie man es bisher nicht einmal bei seinem koreanischen Kollegen Kim Ki-Duk sehen
konnte. Bei Ki-Duk, der durch seinen Film "The
Isle" bekannt wurde, ist die
Dialektik von Sprachlosigkeit und Gewalt das Symptom eines Verlusts von kultureller
Identität und sozialer Integrität, das er selbst vor allem im westlich
geprägten ostasiatischen Raum verortet (womit wir eventuell auch schon
den Grund für unsere Faszination an gerade diesen Filmen gefunden haben).
Auch in "Der Fluss" zeigen sich solche
Symptome: Xiao-Kang regrediert unter dem Einfluss mysteriöser Nackenschmerzen
langsam zu einem verkrüppelten Pflegefall. Ein Leck in den Rohrleitungen
über der Wohnung der Familie verwandelt das Schlafzimmer des Vaters in
eine Tropfsteinhöhle. Und der eingangs erwähnte Industriefluss wird
zur Metapher für den Selbstzerstörungstrieb der Zivilisation, der
in der Desintegration der Menschen seine unerbittliche Form findet. Wo Ki-Duk
sich in die Poesie eines, wie er es nennt, "semiabstrakten Realismus"
flüchtet, erlangt Ming-Liang durch die Reduktion der Mittel einen lapidaren,
fast dokumentarischen Blickwinkel, wodurch die vereinzelten Objekte und Situationen
wiederum eine metaphorische Dichte gewinnen. Und diese Metaphern finden sich
in "Der Fluss " immer wieder im direkten Umfeld der zerstörten
Familie, die hier wie auch in vielen anderen asiatischen Filmen der letzten
Zeit auf dem Prüfstein steht.
Aber mehr als diese Filme zerstört "Der
Fluss" die Hoffnung auf die Familie als soziale Monade. In Takashi Miikes
Körperflüssigkeitsgroteske "The Visitor" wurde die Schutzfunktion
des Familiengefüges zwar durch die innere Zerrüttung in Form gewaltätiger
Eskalationen denunziert. Doch am Ende wird eine Neuordnung als verkorkste Utopie
in Aussicht gestellt. Indem die Frau mit ihren hyperproduktiven Milchdrüsen
Haus und Heim unter Wasser setzt, kann sie ihre Familie zurück an die Mutterbrust
holen. Der japanische Regisseur Shunji Iwai ("Yentown - Swallowtail Butterfly")
zeigt in seinem aktuellen Film "All about Lily Chou Chou" dagegen
eine desolate Jugend, die sich längst ihren eigenen imaginären Sozialraum
geschaffen hat. Ein Großteil der Narration findet im virtuellen Chatroom
statt, während die realen Handlungen irrational und kaum nachvollziehbar
erscheinen. Aus der Diskrepanz von virtuellem Sein und realer Entfremdung hat
sich ein Gewaltpotenzial entwickelt, das sich schließlich wenig befreiend
entlädt.
Diese soziale Dislozierung, der Ursprung von Ohnmachtsgefühl
und gewalttätigem Ausbruch, haben im deformierten Körper Xiao-Kangs
ihr nachhaltigstes Bild gefunden. In der Verkrüppelung als stillem Protest
gegen die desfigurierte Familie ist das Scheitern allerdings schon abzusehen.
Denn die Vergewisserung des eigenen Körpers kann bei Ming-Liang nur zu
falschen Schlüssen führen: Der einzige Moment von Intimität zwischen
Vater und Sohn hat unüberwindliche Distanz zur Folge. Und bezeichnenderweise
wird erst ihr Schweigen diese Erfahrung für sie fassbar machen.
So hinterlässt Ming-Liang mit "Der Fluss"
den bisher fulminantesten Eindruck von Vergeblichkeit im asiatischen Kino. Seine
Bilder entbehren jeglichen poetischen (und damit utopischen) Potenzials, während
er in den zögerlichen Handlungen seiner Figuren immer wieder nur die Ausweglosigkeit
ihres Zustandes vor Augen führt. Auch wenn Gewalt physisch kaum vorkommt,
ist sie doch strukturell in den Bildern angelegt. Sie hat sich - das ist die
wohl größte ästhetische Herausforderung des Films - in den mitunter
quälend langen Einblicken längst gegen Zuschauer gewandt, ohne dass
eine Möglichkeit zur Flucht besteht.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der: taz
Der
Fluss
Taiwan
1997 - Originaltitel: He Liu - Regie: Tsai Ming-liang - Darsteller: Lee Kang-sheng,
Miao Tien, Lu Hsiao-ling, Chen Chao-jung, Chen Shiang-chyi, Chang long, Ann
Hui, Lu Shiao-Lin, Yang Kuei-Mei - FSK: ab 16 - Fassung: O.m.d.U. - Länge:
115 min. - Start: 14.3.2002
zur
startseite
zum
archiv