„Hab ich’s von Dir, mein Schöpfer, denn erbeten,
Dass Du aus Lehm zum Menschen mich geformt
Dass Du mich aus der Dunkelheit hervorzuziehen kamst
Hab’ ich Dich darum ersucht?
Ich war der Sklave meines Geschöpfs
Du bist mein Schöpfer, aber ich bin der Herr;
GEHORCHE“
Mary Godwin (1797-1851) hatte nicht gerade eine beschwingte Kindheit. Die 1797 geborene Tochter der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft und des Revolutionärs William Godwin kannte ihre Mutter nicht, weil sie bei der Geburt Marys gestorben war. Nach der Wiederheirat ihres Vaters wuchs sie mit vier Geschwistern verschiedener Eltern auf und verbrachte lange Zeit in Pflegefamilien. Mit nicht einmal 17 Jahren brannte sie zusammen mit ihrem späteren Mann, dem Schriftsteller Percy Shelley (1792-1822), durch. Im Sommer 1916 reisten die Shelleys auf der Suche nach Lord Byron zusammen mit Marys Schwester Claire in die Schweiz und hielten sich in Byrons Villa Diodati auf. Anwesend war auch Byrons Leibarzt John Polidori. In den Gewitternächten lasen die fünf des öfteren Gruselgeschichten (Ken Russell diente eine dieser Nächte als Grundlage für seinen Film „Gothic“, 1986). Eines Abends schlug Byron vor, jeder solle eine eigene Gespenstergeschichte schreiben. Doch nur Mary Shelley und Polidori brachten es bis zu fertigen Romanen. Polidoris „The Vampyre“ erschien 1819, Mary Shelleys „Frankenstein oder der moderne Prometheus“ 1818, die erste Auflage noch unter einem Pseudonym. Polidoris Roman lieferte Bram Stoker (1847-1912) die Vorlage für dessen „Dracula“ (1897). Nach dem Tod ihres Mannes 1822 schrieb Mary Shelley noch weitere, allerdings wesentlich weniger erfolgreiche Romane, u.a. „The Last Man“ (1844), der vom Untergang der Menschheit im 21. Jahrhundert handelt.
Ein Traum in einer jener gewittrigen Nächte am Genfer See war Ausgangspunkt der Geschichte von
Frankenstein: „Ich sah das hässliche Trugbild eines Menschen ausgestreckt liegen, und dann, auf die Arbeit
irgendeiner mächtigen Maschine hin, gab es plötzliche Lebenszeichen von sich und regte sich mit einer
ungelenken, kaum lebensähnlichen Bewegung.“
Mit einigem Recht kann man wohl sagen, dass die Nächte in Lord Byrons Villa nicht unwesentlich sowohl zum
Horror-, als auch zum Sciencefiction-Genre beigetragen haben. Eine Frau zwischen lauter bekannten Männern,
Männern, die die „freie Liebe“ predigten und praktizierten (auch ihr Mann), die von ihrem Mann fünfmal
schwanger war (nur zwei Kinder überlebten), schreibt den „Urstoff“ zu einer Reihe von Horror-Geschichten und
filmischen Adaptionen. Und parallel dazu wird Dracula geboren. Zwei Funken, die zu einem Lauffeuer
entbrannten.
Thomas Edison nahm sich 1910 erstmals des Frankenstein-Stoffs an und drehte einen Film mit Charles Ogle als
Monster. 1931 war es dann so weit. James Whale (1) realisierte für das Kino, was Mary Shelley für die Literatur
geschaffen hatte: Den „Ur-Frankenstein“, für Boris Karloff (2) der Beginn einer Monster-Karriere. (Zunächst war
übrigens Bela Lugosi, „Dracula“, für die Hauptrolle vorgesehen.)
Dämmerung auf dem Friedhof. Weinende Menschen. Der Totengräber schüttet das Grab zu. Hinter einer Hecke
lauern Dr. Frankenstein (Colin Clive) (3) und sein buckliger Assistent Fritz (Dwight Frye), bis der letzte Lebende
den Friedhof verlassen haben. Sie graben den Sarg aus, und unterwegs schneiden sie einen Gehenkten ab. Dr.
Frankenstein ist besessen davon, einer von ihm aus den Einzelteilen von Toten zusammengesetzten Kreatur mit
Hilfe von Elektrizität und anderen Zutaten Leben einzuhauchen. Fritz verschafft seinem Herrn aus der Universität
das Gehirn eines Verbrechers, die letzte Zutat, um mit dem Experiment zu beginnen. Frankensteins Verlobte
Elizabeth (Mae Clarke) (4) ist verzweifelt darüber, dass sich Frankenstein seit Wochen in seinem Turm
eingeschlossen hat. Sie ahnt nichts Gutes und bittet beider Freund Victor (John Boles) (5) sowie Frankensteins
ehemaligen Doktorvater Waldman (Edward van Sloan) um Hilfe.
Alle drei begeben sich zu Frankenstein, der sie nur unwillig hereinlässt, dann aber vor ihren Augen die Kreatur
(Boris Karloff) zu neuem Leben erweckt. Frankenstein ist völlig außer sich: „Look! It’s moving. It’s alive. It’s
alive ... It’s alive, it’s moving, it’s alive, it’s alive, it’s alive, it’s alive, it’s alive! Oh – in the name of God. Now I know
what it feels like to be God!“ Fritz, der auf sie aufpassen soll, gleichzeitig Angst vor ihr hat und sie beherrschen
will, treibt sie in einen Raum, quält sie mit einer Fackel. Die Kreatur kann noch kein Licht vertragen. Fritz peitscht
sie zu Boden – und bezahlt dafür mit seinem Leben. Auch Frankensteins Vater, der Baron (Frederick Kerr), wird
von Elizabeth und Victor zu Hilfe gerufen, um Frankenstein aus dem Turm zu bringen und ihn von seinem Wahn
abzuhalten. Die Kreatur jedoch, die sich bedroht fühlt, tötet Dr. Waldmann, der sie zuvor mit einer
Morphiumspritze betäubt hatte, und kann fliehen.
Auf dem Schloss des Barons herrscht Freude. Frankenstein und Elizabeth wollen endlich heiraten. Frankenstein
scheint von seinem Wahn befreit. Doch dann erscheint ein Mann (Michael Mark) mit seiner ertrunkenen Tochter
Maria (Marilyn Harris) auf dem Arm, und behauptet, sie sei ermordet worden. Kurz danach steigt die Kreatur durch
das Fenster des Hauses Frankenstein ...
Niemand, der heute „Frankenstein“ ansehen wird, wird sich noch übermäßig gruseln. Das, was James Whale
(übrigens eher auf einer für das Theater konzipierten Adaption von Peggy Webling, denn direkt auf Mary
Shelleys Roman beruhenden Inszenierung) auf Zelluloid bannte, ist heutzutage fast täglich im Fernsehen zu sehen
– und zwar tagsüber. Doch in der Zeit der Großen Depression war „Frankenstein“ etwas Neues. Ohne auch nur
annähernd die technischen Möglichkeiten zur Verfügung zu haben, die heute so selbstverständlich geworden
sind, beruht das Grauen des Films vor allem auf zwei Dingen: Der seit 1931 unvergesslichen Kreatur, die mit dem
hochintelligenten, nach Aussage nicht nur seiner Tochter friedfertigen und äußerst sympathischen Boris Karloff
fast vollständig in eins gesetzt wird, und der durch Bühnenbild und Licht-Schatten-Effekte geschaffenen düsteren,
oft morbiden Atmosphäre. In diesen Rahmen verankerte Whale den durch die Kreatur und Frankenstein
personifizierten Gegensatz von fast kindlicher Unschuld und Schuld der Erwachsenen.
Die Apparatur aus elektrischen Leitungen, Kabeln, Reagenzgläsern, anderen Gefäßen usw. (die übrigens noch
Jahrzehnte immer mal wieder in Filmen eingesetzt wurde) ist aus heutiger Sicht von äußerster Schlichtheit. Ohne
Blut, zerrissene Leiber oder Gliedmaßen, auch ohne übermäßige Gewalt wirkte der Film auf das Publikum
teilweise derart erschreckend, dass sich Universal Pictures veranlasst sah, zu Beginn des Films einen netten älteren
Mann auftreten zu lassen, der die Zuschauer vor dem Horror warnt, der auf sie zukomme. Der Film spielt in einer
(fast bayerisch anmutenden) bäuerlichen Umgebung, geprägt von der Herrschaft des „bodenständigen“ Vaters
Frankensteins, fernab jeglicher städtischer Kultur und Industrialisierung.
Der wahnhafte Glaube Frankensteins an das Recht, sich göttliche Macht aneignen zu dürfen, ist das Bindeglied
zwischen diesem fast „unschuldig“ wirkenden sozialen Netzwerk und den Folgen der wissenschaftlichen
Revolution, die in der Person Frankensteins meint, alles machen zu dürfen, was machbar ist. Dr. Waldman ist in
dieser Hinsicht Frankensteins Gegenspieler. Aber auch Waldman schätzt das, was passiert, nur bedingt richtig ein.
Er meint, die Kreatur sei ein Monster, das Böse schlechthin. Er erkennt nicht, dass das Böse von Frankenstein
kommt, von den ohne Skrupel genutzten Möglichkeiten einer Wissenschaft, der Waldman sich selbst verschrieben
hat.
Der Gegensatz von Gut und Böse ist in dieser Adaption des Frankenstein-Stoffs noch eindeutig beherrscht von
der Widersprüchlichkeit zwischen und in den beiden Figuren von Frankenstein und der Kreatur. Die Kreatur hat
sich nicht selbst in diese Welt gesetzt. Sie ist hineingeworfen worden, ohne sie zu fragen, wie ein Kind, aber im
Unterschied zu einem Kind eben auch wie ein Fremder, ein nicht zur sozialen Gemeinschaft gehöriger
Fremdkörper. Die Kreatur ist wie ein Kind, das sich im Leben zurechtfinden muss und dabei von Anfang an auf
Feindschaft und Ablehnung stößt: Fritz (eine Figur die in Shelleys Roman übrigens nicht vorkommt) quält sie, dann
wird sie eingesperrt, betäubt, angegriffen. Sie muss fliehen. Und dann geschieht etwas Wunderbares und
Erschreckendes zugleich. Sie trifft auf ein wirkliches Kind, auf die kleine Maria, die am See vor dem Haus ihres
Vaters mit Blumen spielt, die Kreatur an der Hand nimmt und zum Wasser führt, mit ihr spricht, die Blumen mit ihr
teilt.
Karloff und Marilyn Harris sind einfach phantastisch in dieser Szene, wie zwei spielende, glückliche Kinder, in all
ihrer Unschuld. Als Maria einige ihrer Blumen ins Wasser wirft, die wie kleine Boote schwimmen, ist die Kreatur
für einen Moment das glücklichste Geschöpf auf Erden. Sie nimmt Maria und wirft sie ebenfalls ins Wasser, nicht um
ihr weh zu tun oder sie gar zu töten, sondern um sie schwimmen zu sehen wie die Blumen. Maria kann nicht
schwimmen und ertrinkt. Das Tragische, das sich in der Kreatur als Geschöpf eines Wahnsinnigen verbirgt, nimmt
seinen Lauf. Das unschuldige Gute, das sich seit seiner „Geburt“ nur wehren musste, ereilt in einem Moment des
ersten (und letzten) Glücks nicht nur der Tod des Kindes (was der Kreatur wahrscheinlich nicht einmal bewusst ist,
denn sie weiß ja nicht einmal, was Wasser überhaupt ist), sondern die Tragik und der Schrecken einer außer Rand
und Band geratenen Wissenschaft. In diesem Moment offenbart sich der Schrecken eines Dr. Frankenstein, nicht
der der Kreatur. Mit ihr kann man nur Mitleid haben, mit ihr kann man sich nur identifizieren. Gleichzeitig spielte
Karloff die Kreatur doppeldeutig. Einerseits fast warmherzig und sympathisch, andererseits furchterregend in
ihrem Widerstand gegen seinen Schöpfer und die anderen. Karloffs Augen wurden mit künstlichen Lidern
versehen, so dass er sie nur halb öffnen konnte. Dieser Effekt ist grandios. Sein Blick wirkt „halb und halb“,
einerseits als Blick einer hilflosen, fast kindlichen Gestalt, die nichts weiß, andererseits furchterregend, als eine
Person, die man nicht einzuschätzen kann.
Diese Szene mit Maria und der Kreatur, aber auch die Nahaufnahmen von der Kreatur, die Bedrohung der
Kreatur mit Fackel und Peitsche durch Fritz waren in dieser Art etwas durchaus Neues im Kino der 30er Jahre. Die
Zensur stand auch schon bereit und strich den oben zitierten Halbsatz Frankensteins „feels like to be God“.
„Frankenstein“ ist ein wirklicher Klassiker. Bis 1944 folgten fünf weitere Filme. Der Stoff hat bis heute von seiner
Faszination nichts verloren. Selbst der Umstand, dass Whale sich in etlichen Punkten von der Romanvorlage
entfernte, schadet der Adaption des Stoffs in keiner Weise. Im Roman spricht die Kreatur, sie wünscht sich
Gesellschaft, sie schließt mit einem blinden Mann Freundschaft usw. „Frankenstein“ enthält auch einige logische
Ungereimtheiten. Woher weiß der Vater, dass Maria umgebracht wurde und nicht einfach ertrunken ist? Woher
weiß die Kreatur, wo sie Frankenstein findet? Wer hat den toten Dr. Waldman gefunden? Doch auch diese
inszenatorischen Mängel (die nur dazu dienen, die Handlung voranzutreiben) können der Kraft und Wirkung des
Films nichts nehmen.
Ulrich Behrens
Zusatzinformationen zu Regisseur und Hauptdarstellern:
(1) James Whale (1893-1957):
u.a. „Das Haus des Grauens“ (1932), „Frankensteins Braut“ (1935), „Der Mann mit der eisernen Maske“ (1950),
„Grüne Hölle“ (1952).
(2) Boris Karloff (1887-1969):
u.v.a. „Das Haus des Grauens“ (1932), „Die Maske des Fu-Manchu“ (1932, R: Charles Brabin, Charles Vidor), „Die
Mumie“ (1932, R: Karl Freund), „Frankensteins Braut“ (1935), „Frankensteins Sohn“ (1939, R: Rowland V. Lee), „Der
Henker von London“ (1952, Rowland V. Lee), „Das schwarze Schloss“ (1953, R: Nathan Juran)
(3) Colin Clive (1900-1937):
u.a. „Frankensteins Braut“ (1935), „Der Mann, der die Bank von Monte Carlo sprengte“ (1935, R: Stephen
Roberts).
(4) Mae Clarke (1907-1992):
fast ausschließlich Nebenrollen, u.a. in „Love is Better Than Ever“ (1952, R: Stanley Donen)
(5) John Boles (1895-1969):
fast ausschließlich Nebenrollen, männliche Hauptrolle in „My Lips Betray“ (1933, mit Lilian Harvey, R: John G.
Blystone)
Dieser Text ist zuerst erschienen bei CIAO.de
Frankenstein
[Frankenstein] USA 1931
Laufzeit: 71
Drehbuch: John Balderston, Francis Edwards Faragoh, Robert Florey, Peggy Webling, nach dem Roman von Mary Shelley
Regie: James Whale