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Frauen
unter sich
Unverfroren
naiv, überaus sentimental und dennoch eindrucksvoll: Anjelica Hustons Porträt
einer Witwe mit sieben Kindern
Wenn
Schauspielerinnen in die Jahre kommen, in denen die Rollenangebote dünner
werden, bietet sich der Wechsel ins Regiefach als Ausweg an. Einmal, um im Wechsel
der Perspektive noch mal aus dem Erfahrungsschatz eines langen Darstellerlebens
zu profitieren. Zum anderen, um sich selbst die Rollen zu kreieren, die sonst
Mangelware sind.
Die
1952 geborene Schauspielerin Anjelica Huston gab schon 1996 ihr Regiedebüt
- mit BASTARD OUT OF CAROLINA, dem düsteren Porträt einer von Missbrauch
und Gewalt gezeichneten Kindheit im white trash-Milieu der ländlichen USA.
Auch in Hustons neuem Film AGNES BROWNE geht es um Familienleben in schwierigen
Verhältnissen, um die Mühen einer Einzelkämpferin, übermächtig
erscheinenden Widrigkeiten zu trotzen. Die Grundposition, die der Film bezieht,
ist ähnlich: Frau muss dem Unbill der feindlichen (Männer-)Welt den
eigenen Willen entgegensetzen, doch sind die Akzente deutlich anders gesetzt
als bei BASTARD OUT OF CAROLINA: Statt provinzieller Dumpfheit ist mitmenschelnde
Wärme das Grundgefühl, statt Bitterkeit Humor, statt Gebrüll
Gesang, in den (immer noch existierenden) Widrigkeiten der Verhältnisse
wird die Kraft des Positiven beleuchtet.
Schließlich
sind wir in Irland, im Dublin der späten sechziger Jahre. Im Zentrum steht
Agnes Browne (Angelica Huston selbst), deren Ehemann gerade gestorben ist. Jetzt
muss die Witwe ihre sieben Kinder allein mit einem kleinen Gemüsestand
durchbringen. Der Feinde sind wenig, dafür garstig: ein Wucherer, der Agnes
erst droht, dann der Familie Hab und Gut wegpfänden will. Der Krebs, der
Agnes die beste Freundin raubt. Freunde gibt es umso mehr: die Gemeinschaft
der Mit-Armen. Die Kinder, die trotz manch quengeliger Minuten im Ernstfall
ihre Pennies zusammenlegen, um der Mama das blaue Ballkleid zu schenken, das
sie sich heimlich so sehr wünscht. Der Mann, für den das Ballkleid
gedacht ist, Pierre, der Agnes umschwärmt. Marion, die Freundin, die, bevor
sie stirbt, Agnes noch zwei Karten für ein Konzert ihres Lieblings Tom
Jones besorgt. Doch natürlich sind es zuallererst Agnes' eigene Tapferkeit,
ihr Humor und ihr gesunder Menschenverstand, die ihr helfen, die Niederungen
des Lebens zu meistern.
Dabei
werden lustig alle Klischees bedient, die das Kino allgemein und Irland speziell
so hergeben. Die Annen sind gut und stehen füreinander ein. Die Kredithaie
lungern an den Straßenecken herum und reiben sich die Hände, wenn
sie wieder ein Opfer gefunden haben. Der französische Lover ist nicht nur
Bäcker, er sieht auch noch aus wie Depardieu. Und um manche unschöne
Plotelemente windet man sich sehr glatt herum: Die krebskranke Marion stirbt
so krebsuntypisch schön, wie es sich jeder wünscht, von einem Moment
auf den anderen. Auch die Sentimentalität kann einem unangenehm aufstoßen.
Und wenn die Frauen über ihre nicht erlebten „Organismen" witzeln:
Ist das ein in Humor verpacktes antisexistisches Statement oder einfach nur
peinlich?
Andererseits
ist dieser Film so unverfroren naiv drauflos erzählt, dass es gar nicht
so leicht ist, ihm böse zu sein. Es macht schon Vergnügen, sich die
gelungenen Sechziger-Jahre-Settings anzusehen. Die Schauspieler machen, wie
meist in Schauspielerfilmen, ihre Sache ausgezeichnet. Und das Sentiment rekrutiert
sich nicht aus künstlich eingesetzten Mitteln, sondern aus den Figuren
und den Situationen selbst.
BASTARD
OUT OF CAROLINA, der bei uns nie den Weg in die Kinos gefunden hat, aber auf
Video erhältlich ist, war sicher Hustons wichtigerer Film. Aber sympathisch
ist diese AGNES BROWNE doch, allem voran wegen Hustons herrlich unmütterlicher
Interpretation der Mutterfigur. Man sollte diesen Film als Märchen sehen.
So ist er auch angelegt. Am Ende ist es Tom Jones höchstpersönlich,
der mit einem doppelten Auftritt als Deus ex Machina erst alles zum Guten wendet
und dann der guten Agnes sogar noch ein Lied widmet.
Silvia
Hallensleben
Dieser Film ist zuerst erschienen in:
Frauen
unter sich
AGNES
BROWNE
USA
1999. R: Anjelica Huston, B: John Goldsmith, Brendan O'Carroll (nach dem Roman
„The Mammy" von Brendan O'Carroll). P: Jim Sheridan, Arthur Lappin, Anjelica
Huston, Greg Smith. K:
Anthony S. Richmond. Sch:
Eva Gardos. M:
Paddy Moloney. T: Peter Sutton. A: David Brockhurst. Ko: Joan Bergin. Pg: October
Films/Hell's Kitchen/ Good Machine Intl. V: Kinowelt. L: 92 Min. Da: Anjelica
Huston (Agnes Browne), Marion O'Dwyer (Marion Monks), Niall O'Shea (Mark), Ciaran
Owens (Frankie), Roxanna Williams (Cathy). Carl Power (Simon), Mark Power (Dermot),
Tom Jones. Start:
1.6.2000 (D).
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