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Frau
fährt, Mann schläft
(Zeitreisen
2 – Die Gegenwart)
Alles, was du in den letzten zwei Jahren nicht angefasst
hast, kann weg“, rät der pragmatische Philosophie-Professor Anton seiner
umzugsunwilligen Frau Sue, die sich nicht von Dingen trennen mag. So liegt über
dem Beginn eine leise Melancholie, die mehr von Abschied als von Aufbruch erzählt.
Die Familie Bogenbauer-Süssmilch zieht von der Peripherie direkt dorthin,
wo man „ganz dicht am richtigen Leben“ ist, wie Tochter Laura sagt. Routiniert
und mit mildem Spott reagiert Anton auf seine gereizte Frau. Kein Wunder, schließlich
hat man es hier mit „Deutschlands glücklichster Familie“ zu tun; als solche
tritt die sechsköpfige Familie in einer Fernseh- Talkshow auf und schlägt
sich angesichts der professionellen Oberflächlichkeit des Moderators Harald
Flickschuster mehr als wacker.
Anton Bogenbauer, Sue Süssmilch, Harald Flickschuster
– wenn Figuren solche Namen tragen, befindet man sich mitten im Universum von
Rudolf Thome, in dem man türkische Haushälterinnen und italienische
Freundinnen hat, morgens fünf Tageszeitungen liest und über „Weltformeln“
und die „absolute Wahrheit des Universums“ nachdenkt. „Frau fährt, Mann
schläft“ erzählt von der Brüchigkeit und bestenfalls kurzfristig
zu stabilisierenden Erfahrung von Glück. Allzu glücklich ist „Deutschlands
glücklichste Familie“ nämlich nicht. Seit Jahren schlafen Sue und
Anton getrennt – man darf die eingangs zitierte Maxime Antons auch auf ihre
Beziehung münzen. Anton hat ein Verhältnis mit einer Studentin, Sue
hat sich in den Astronomen Sven Hedin verliebt, der älteste Sohn Thomas
hat gerade von seiner Freundin den Laufpass bekommen, und auch die anderen drei
Kinder erleben ihre ersten Beziehungen außerhalb der Familie. So stehen
neben den räumlichen auch emotionale Veränderungen an, doch erst der
unerwartete Tod von Thomas schafft die nötige Distanz zur Alltäglichkeit.
Meisterlich gestattet Thome im zweiten, der Gegenwart
gewidmeten Teil seiner „Zeitreisen“-Trilogie einen präzisen Blick in seine
phänomenologische Poetik und verhandelt „letzte Dinge“ auf ernsthafte,
zugleich stets leicht distanziert-amüsierte, vielleicht auch nur extrem
zugespitzte Weise. Im Gang vor Thomas’ Krankenbett gesteht Sue Anton, dass sie
einen anderen Mann liebt, und dass sie beide zu lange mit ihren Lügen gelebt
hätten. Anton reagiert regungslos, sein zuvor souveränes Verhalten
„entlarvt“ sich binnen Sekunden als selbstgefällig und egozentrisch. Als
Glücksfall für Thomes komplexe psychologische Studie erweist sich
das präzise Spiel der Hauptdarsteller: Hannelore Elsner braucht nur einen
langen, abschätzenden und abschätzigen Blick, um die Entfremdung von
ihrem Mann zu vermitteln; begeisternder noch ist, wie Karl Kranzikowski äußerst
zurückhaltend die nahezu vollständige Dekonstruktion seiner Figur
als selbstgefälligen „Poser“ anlegt, der jedem Rock nachsteigt. Am Grab
des Sohnes erleidet Sue einen Nervenzusammenbruch und wird von Anton in die
Spezialklinik eines befreundeten Arztes gebracht, was sie als Verrat begreift.
Doch es ist genau diese Distanz von der Familie, die Sue, die zunächst
über ihre Defizite und Ängste charakterisiert wurde, den Raum gibt,
um ihre Ehe und Träume zu bilanzieren. Ihr Fazit ist bitter, eröffnet
der gemeinsamen Zukunft aber eine letzte Chance.
Der Film endet mit einer Reise nach Italien, auf
die der eigenwillige Filmtitel anspielt. Roberto Rossellinis „Viaggio
in Italia“ (1953), gleichfalls die
Geschichte einer Ehekrise, begann mit einer Einstellung, die genau das zeigte:
Frau (Ingrid Bergman) fährt, Mann (George Sanders) schläft. Thome,
für den die Italien-Reise ein beständig wiederkehrendes Motiv ist,
schrieb 1987 dazu: „Rossellini hat nicht eine Vorstellung im Kopf gehabt, die
er, wenn er dreht, in Bilder, in Filmszenen umsetzt ... Das, was Rossellini
sucht, ist etwas Flüchtiges. Nennen wir es Glück, nennen wir es Wahrheit.
Das sind große Worte, die gar nicht so wichtig sind. Es geht auf jeden
Fall darum, worum es in jeder Kunst geht: um den Versuch, die Wirklichkeit zu
sehen und darzustellen.“ Vergleichbar produktiv, wie Thome hier einen unüberschaubaren
Referenzraum aktualisiert, schmuggelt er durch die Profession der um Sue werbenden
Männer Subtexte als Kommentar in seinen Film. So trägt der Moderator
Flickschuster Thesen aus Antons Studie „Das Zeitproblem – Gestern, Heute, Morgen“
vor, in der es heißt: „Wer nicht darauf vertraut, dass die Macht der Phänomene,
selbst unermesslich, viel stärker ist als jene kümmerlichen Gebilde,
die wir als unsere Begriffe mit uns herum tragen, der hat noch nicht angefangen
zu denken. Also Wirkliches zu erfassen, wie es von sich aus ist!“ Später
stellt Anton in einer Vorlesung zur Metaphysik fest: „Der Mensch weiß,
dass er in der Zeit ist, der Tod ist der Austritt aus der Zeit, das Wissen um
die eigene Sterblichkeit distanziert den Menschen inmitten der Zeit von der
Zeit, nur aus Distanz ist also Erkenntnis möglich.“ Interessant wird es,
wenn Sue, zunächst überfordert, feststellt: „Mein Gott! Warum passiert
immer alles gleichzeitig?“, um wenig später gegenüber Anton das erkenntnistheoretische
Paradoxon „Stell’ dir vor, es gibt nur die Gegenwart!“ zu formulieren. Tatsächlich
kreist „Frau fährt, Mann schläft“ um einen Moment profaner Erleuchtung,
um die Aufhebung der Distanz zur Gegenwart. Wenn Sue am Schluss ihren Ehering
ins Meer wirft, ist wirklich alles entschieden; hatte sie doch zuvor ihrem Geliebten
Sven Hedin ihren Traum erzählt, indem es hieß: „Du musst dein Liebstes
opfern, dann bist du frei!“
Dermaßen konzise gelingt Thome die Weitung
der Ehegeschichte ins Allgemeine, dass „Frau fährt, Mann schläft“
zur Quintessenz seiner aktuellen Werkphase wird. Bei aller Schärfe im Detail
bleibt sein Blick aufs Geschehen dennoch milde und ungerührt. Hier kommt
die Perspektive des Astronomen Hedin ins Spiel, der das Leben mit einem Ameisenhaufen
vergleicht, in den man einen Stein wirft; binnen kurzer Zeit seien die Leichen
fortgeschafft, sei das Chaos in eine neue Ordnung überführt. Thomas’
Tod ist ein solcher Stein, der für kurze Zeit ein Chaos erzeugt. Aus der
Distanz jedoch, auch davon erzählt Thome, ist die Krise nur ein vorübergehendes
Moment im Rhythmus von Werden und Vergehen. Dass Antons und Sues Kinder nach
der Katastrophe rasch in ihren Alltag zurückfinden, sexuelle, künstlerische
oder freundschaftliche Erfahrungen machen, bestätigt diese Perspektive
aufs Leben.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-dienst 23/2004
Frau
fährt, Mann schläft
Regie:
Rudolf Thome - Buch: Peter Lund und Rudolf Thome - Kamera: Michael Wiesweg -
Schnitt: Dörte Völz-Mammarella - Musik: Katia Tschemberdji - Darsteller:
Hannelore Elsner, Karl Kranzkowski, Hanns Zischler, Serpil Turhan, Markus Perschmann,
Kathleen Fiedler, Kim Hartwich, Eva Herzig, Fiona Pinkall, Lynn Hoppe, Joya
Thome, Nicolai Thome u.a. - 2003; 120 Minuten - Deutscher Start: 4.11.2004
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