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Freischwimmer
Die Kreisblende wird aufgezogen und gibt
den Blick frei auf eine romantische deutsche Stadt wie aus dem Bilderbuch. Die
Kamera fährt an den Läden vorbei, dem Bäcker, der Apotheke. Sie
wird mit einem gut ausgeschlafenen „Guten Morgen!“ begrüßt. In der
Kleinstadt grüßt man sich, und die Kamera gehört dazu. Es wird
in sie hinein gewunken. Mit der subjektiven Kamera kommt Ironie ins Spiel, und
die Musterromantik wird zum Klischee, das es ist. Vor fünfzig Jahren begannen
die Heile-Welt-Filme auf diese Weise – und blieben dabei. In Kleinerts Film
wird die aufgesetzte gute Laune, die lärmende Fröhlichkeit, zur Belästigung
– jedenfalls für zwei Außenseiter, die Helden des Films. Es gibt
zwei Möglichkeiten, sich dem zu entziehen. Der Loser-Schüler (Frederick
Lau) schaltet sein Hörgerät aus. Damit wird es auch im Kino still.
Der Deutschlehrer (August Diehl) ordnet gern Schweigeminuten an. Das hat den
gleichen Effekt. Die beiden verbindet jedoch viel mehr. Das ist die Liebe zum
Modellbau. Überm Schülerbett hängt die große Platte, auf
der die Klischeestadt im Märklinformat nachgebaut ist, Schienenverkehr
inbegriffen. Und die Unruhe hat der Lehrer im Griff, wenn er seine Klasse 1:1
nachbaut. Samt SchülerInnen. Die Modelle der Klischees sind es, die Realität
schaffen. Eine ziemlich böse. Haben Sie gewusst, dass Schulmassaker von
Lehrern veranstaltet werden?
Die eleganten Wendungen und Drehungen
des Filmbuchs (Thomas Wendrich) sind entschieden zu loben, auch die sparsamen
und wie-neben-her gesprochenen Dialoge („Sag mal, ist das Deine erste Leiche?“).
Die „Freischwimmer“ sind weit weg vom jüngsten minimalistischen Stil, und
Stille lastet nicht mehr, sondern befreit. Ein Wunder! Man wird geschockt und
gepackt. Gleichzeitig geht man auf Distanz. Schon deswegen, weil im Verlauf
des Films gewiss wird, dass man sich mit niemandem identifizieren kann. Schon
das wäre etwas, das jede Drehbuchwerkstatt rügen würde. Aber
dieser Film ist eben nicht das Übliche. Holla! Es macht ja wieder Spaß
richtig hinzukucken! Als ob mir jemand die Brille geputzt hätte mit einem
magischen Tuch.
In meiner Jubelkritik kann ich leider
die Handlung nicht unterbringen, weil das gemein wäre. Empfehlen kann ich
daher nur, sich überraschen zu lassen und den nächst besten
Halt zu suchen, wenn der scheinbaren Realität der Boden unter den Füßen
weggezogen wird. Aufpassen! Nicht mit denen sympathisieren, die
Mitleid erwecken! Eine makabre Tour, und sie werden in einer Art „Saw“-Keller
aktiv! Warum lässt die oder der passiv und gradezu masochistisch das Leid
über sich ergehen, das ihr/ihm angetan wird? Nur darum, um in die Süße
der irrealen Scheinwelt vom Anfang des Films zurückzukehren. Aus der Realität
zurück in die Welt der Vorabendserie! Das geht hier, im Fall des wunderbaren
Films von Andreas Kleinert („Wege in die Nacht“), mit medialer Ironie ab. Eine
Kreisblende dreht sich langsam zu und fokussiert dabei den Ex-Outsider beim
Liebesschlusskuss mit der Schönsten von allen.
Nochmal: als Zuschauer wird man mittels
der subjektiven Kamera und dem subjektiven Ton am Film beteiligt. Der subjektive
Schnitt (Gisela Zick) ist hinzuzufügen. Die Bildmontagen
wenden sich unmittelbar, an den, der kuckt. Meine Rezeption, mein Ding! Und
eine Freude ist es auch, aktiv wahrzunehmen, wie sich die böse Realität
hinter dem Heile-Welt-Bild enthüllt und – bitter, bitter – wieder verhüllt.
Die „Freischwimmer“ setzen zwar die Aquariumsfische im romantischen Fluss aus,
sie selbst aber kehren, angepasst, ins Klischee zurück. Das ist tragisch
und komisch zugleich. Werd ich jetzt melancholisch? Nicht bei diesem Film!
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text wurde geschrieben
für die taz
Freischwimmer
Deutschland
2007 - Regie: Andreas Kleinert - Darsteller: Frederick Lau, August Diehl, Fritzi
Haberlandt, Dagmar Manzel, Alice Dwyer, Devid Striesow, Traute Hoess, Jürgen
Tarrach - FSK: ab 16 - Länge: 110 min. - Start: 8.5.2008
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