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Frenzy
Ein rauer Heimatfilm
über Sex, Essen und Gewalt
Das von Hitchcock gern angewandte „Wrong
Man“-Prinzip lässt sich effektiv
variieren, indem der zur Last gelegte Tatbestand, die Hintergründe für
den Irrtum sowie sonstige definierende Faktoren abgewandelt werden. Gleich bleibt
dabei, dass der auserkorene Sündenbock in die gesellschaftliche, polizeiliche
und juristische Mangel genommen wird oder sich alternativ bzw. noch zusätzlich
im ausgeworfenen Netz mystischer Mächte verheddert. In „Die
39 Stufen“ verfolgt ein intriganter
Geheimdienst die Auslieferung des allzu wissensdurstigen Robert Donat an die
Staatsmacht für einen Mord, den dieser nicht begangen hat. In einer Modifikation
dieses Schemas wird Cary Grant in „Der
unsichtbare Dritte“ für jenen
gehalten und gerät ins Visier eines getäuschten und angefressenen
Geheimdienstes und ebenso in den Polizeiradar, für einen Mord, dessen er
nicht schuldig ist. Grant haderte als Ex-Juwelendieb („Über den Dächern
von Nizza“) zudem mit den Altlasten seiner kriminellen Vita. „Der falsche Mann“
wurde der unbescholtene Henry Fonda indes durch eine rein äußerliche
Verwechslung. Obwohl seine „Anklage“, Überfälle auf Lebensmittelgeschäfte
und Versicherungen, relativ gering war, zeigte sich seine Figur am deutlichsten
gezeichnet von einer staatlichen Ordnung, der ein brauchbarer Lückenbüßer
erst mal lieber ist als gar nichts.
Diese grundsätzliche Anordnung wird in Hitchcocks
Spätwerk „Frenzy“ mittels rigoroser Neufestlegung der entscheidenden Parameter
äußerst reizvoll interpretiert: Vielleicht nicht neu, aber doch eher
selten ist, dass eigentlich Schuldiger – hier: der feiste Obsthändler Robert
Rusk (gespielt vom charismatischen Barry Foster, der wohl nicht nur wegen der
Wirkung seines roten Haars angeheuert wurde) - und falsch Verdächtigter
– hier: der abgehalfterte Richard Blaney (Jon Finch) – miteinander vertraut
sind. Unverbraucht – zumindest für Hitchcock – ist die Idee, einen sexuell
motivierten Frauenmörder als Täter in dieses Gefüge zu integrieren.
Als unverkennbare Signatur stranguliert dieser seine Opfer mit Krawatten zu
Tode – als Kompensationshandlung für die gescheiterte Kopulation aufgrund
von Impotenz.
Womit wir auch schon beim vermittelten Täterprofil
sind, das der Film angenehm nebenbei zeichnet und harmonisch ins Gesamtbild
implementiert. Dahinter kann man eine Replik auf die gescholtene „Psycho“-Lösung
vermuten, in der die zerklärende Psychologisierung des Killers fremdkörperartig
angepappt wurde. (Der Fairness halber sei angemerkt, dass sich „Psycho“ erst
ab seinem Schlusstwist ein Täter-Psychogramm erlauben konnte. Trotzdem
bleibt die Frage, ob es in dieser belehrenden und gestauchten Form überhaupt
notwendig gewesen wäre.) In „Frenzy“ geschieht das – wie gesagt – beiläufiger
und stark durchsetzt mit britischem Humor, dem sich Hitchcock wohl als Reverenz
an sein Heimatland besonders verpflichtet fühlte. Da ist zunächst
zu Beginn ein Gespräch in einem Pub zwischen einem Rechtsanwalt und einem
Arzt, die über die Schwierigkeiten der Rechtsprechung in einem solchen
Fall plaudern und ihre Unterredung mit einem Konsens über den Stellenwert
eines Serienmörders für das touristische Klischeebild Londons abschließen.
Später referiert der mit der Aufklärung der Mordserie betraute Chief
Inspector Oxford (Alec McCowen als Repräsentant einer aufgelockerten Ausführung
des britischen Ermittlertypus, den z.B. ein scharfsinnig-versteifter John Williams
zuvor stark geprägt hat), überhaupt Dreh- und Angelpunkt für
die humoristischen Interaktionen mit den übrigen Protagonisten, seinem
Sergeant (Michael Bates) seine allgemeine Sex-Täter-Charakterisierung,
die er mit der Bemerkung beendet „vor allem sind sie Sadisten und wie die sind,
wissen sie ja wohl, Sergeant?“, was man unter Berücksichtigung der gewährten
Denkpause als Anspielung auf Bates’ Rolle in „Uhrwerk Orange“ verstehen kann.
(Das stand so sicherlich nicht im Original-Drehbuch, das ohnehin während
des Drehprozesses ständig umgeschrieben und angepasst wurde.) Herausragendes
Highlight sind aber die brisanten Zwistigkeiten zwischen Oxford und seiner Frau,
die ihn mit ihren französischen Essexperimenten martert und dem schlussfolgernden
Denker am Ende noch mit ihrer weiblichen Intuition voraus ist.
In „Frenzy“ – Hitchcock hatte in seiner Karriere
schon alles gezeigt und musste keinem mehr irgendetwas beweisen – besticht der
Altmeister durch eine ausgeprägte Freude, mit Stilmitteln zu spielen, ohne
den pragmatischen Zwang zu verspüren, ihnen jeweils irgendeine höhere
Bedeutung zuschreiben zu müssen – l’art pour l’art.
Wenn man Suspense als reine Kunst bezeichnen möchte,
wäre da jene Einstellung zu nennen, in der die Kamera statisch auf den
Eingang der Partnervermittlung von Blaneys soeben getöteter Frau starrt
und auf ihm verharrt als ihre Sekretärin die Treppen erklimmt und nur noch
für den Zeitpunkt ihres Aufschreis verantwortlich ist, dessen unvermeidliches
Geschehen dem Zuschauer längst klar ist. Eine hübsche Spielerei ist
dann noch die Hotelszene, in der Blaney – versteckt angekündigt für
den Zuschauer und unbemerkt vom verschrobenen Hotelpersonal - per Zeitung von
seinem Status als polizeilich Gesuchter erfährt. Völlig „sinnlos“
im positiven Sinne hingegen ist die Sequenz, in der die Kneipenbedienung Babs,
Blaneys Freundin, ihrem Arbeitgeber kündigt und auf die Straße tritt:
die Umgebungsgeräusche verstummen plötzlich, der Hintergrund verschwimmt
und wie aus dem nichts taucht überraschend Robert Rusk, der Mörder,
hinter ihr auf, um sie in seine Wohnung einzuladen.
Das nun folgende ungeschnittene Spiel mit Bildern
und Geräuschen wird praktisch in allem, was über „Frenzy“ gesagt und
geschrieben wird, als meisterlich eingestuft, wenn es um Kameraarbeit und Phantasie-Stimulation
geht. Die Kamera folgt Jäger und Beute die Treppe hinauf, die Wohnungstür
wird geöffnet, Rusk besiegelt Babs’ Schicksal („Du bist genau mein Typ.“),
die Tür schließt sich, die Kamera gleitet sanft zurück, auf
die Straße hinaus in die schützende Obhut der Öffentlichkeit,
markiert von einsetzender Straßenakustik. Der Rahmen ist gesetzt, von
nun an ist es der Vorstellungskraft des Publikums überlassen, wie es sich
ausmalt, was in Rusks Wohnung passiert. Das kann im Einzelfall sogar noch grauenhafter
ausfallen, als es der Regisseur vorgesehen hätte und vor allem als das,
was in Anbetracht der Zensur filmisch gangbar ist.
Im Anschluss daran bearbeitet Hitchcock geradezu
unerbittlich die eingefahrenen Reflexe und den Gefühlshaushalt seines jahrzehntelang
studierten Publikums: Nachdem Rusk sein Opfer auf der Ladefläche eines
Kartoffellasters entsorgt hat, kehrt er in seine Wohnung zurück, um zur
Ruhe zu kommen. Als er das Zimmer durchmisst, sich hin- und überlegt und
sich dabei vom Zuschauer begleiten lässt, wird eine peinlich berührende
Empathie gesät, die etwas später noch intensiviert wird, als Rusk
bei Babs’ Leiche seine ihn entlarvende Krawattennadel sucht. Als er dabei mit
widerspenstigem totem Material hantiert und von Kartoffelsäcken und starren
Gliedmaßen, die ein merkwürdiges Eigenleben entwickeln, malträtiert
wird, ist man schon einigermaßen erleichtert, dass man jetzt über
den erklärten Bösewicht lachen darf. Nichtsdestotrotz wird es einem
aufgrund der abgebrühten Suggestion, derer sich Hitchcock bedient, fast
unmöglich gemacht, nicht mitzufiebern. Das Etikett „Comedy Noir“, das sich
an „Frenzy“ heften lässt, wird in dieser Szene in konzentrierter Form,
wenngleich hier nur physische Komik zum Einsatz kommt, beispielhaft.
Als Blaney Rusk als Schuldigen bezichtigt und selbst
in Haft, die ja bekanntlich trotz Freiheitsentzug tatsächliche Täter
emotional „befreit“, unablässig seine Unschuld beteuert, kommen Oxford
langsam Zweifel an seiner runden Geschichte. Rund wird sie erst im Schlussakkord,
der nicht nur für die selbstverständliche Überführung Rusks
gespielt wird, sondern außerdem noch die letzte Aussage im Zusammenhang
mit dessen Krankheitsbild trifft, wobei dann der Sinn des Titels ersichtlich
wird. „Frenzy“ (Raserei, Wahnsinn) bezeichnet die Unkontrollierbarkeit des eigenen
Triebes, die hier dadurch augenfällig wird, dass Rusk seine Tötungen
fortgesetzt hat, obwohl Blaney, der für ihn bezahlt, schon inhaftiert war.
(Diese Klarstellung sollte dann auch verbissenen Plothole-Aufspürern den
Wind aus den Segeln nehmen.) In dieser finalen Katharsis sind die drei Handlungsträger
Oxford, Blaney und Rusk das einzige Mal zusammen, um das zuvor mühsam ausgestaltete
Geflecht aus Konflikten, Missverständnissen und Heimtücke aufzuribbeln.
Neben all dem ist Hitchcocks vorletzter Film mehr
als ein lakonisches Bekenntnis zu den eigenen Wurzeln, er ist eine leidenschaftliche
Liebeserklärung an das wiederentdeckte Vaterland. Nach einem orchestral
untermalten einstimmenden Helikopterflug die Themse entlang, bewegt sich der
Film hinter die Oberfläche der Metropole hinein nach Covent Garden - Hitchcocks
Vater war selbst Obsthändler auf dem formidablen Markt des Stadtteils.
Mit satten Farben und berauschender Klangwelt wird ein eindringliches Londoner
Lokalkolorit versprüht, an dem sich dann vielleicht auch diejenigen erfreuen
können, die die reichhaltige Auslage des weithin unterschätzten Glanzstücks,
das „Frenzy“ nun mal ist, ansonsten nicht zu reizen vermag.
Erik Pfeiffer
Zu diesem
Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Frenzy
FRENZY
Großbritannien
1972 - 116 min. - Erstaufführung: 12.9.1972/18.11.1999 Video
Regie:
Alfred Hitchcock
Buch:
Anthony Shaffer
Kamera:
Gilbert Taylor
Schnitt:
John Jympson
Musik:
Ron Goodwin
Darsteller:
Jon Finch (Richard Ian Blaney), Alec McCowen (Chief Inspector Oxford), Barry
Foster (Robert Rusk), Billie Whitelaw (Hetty Porter), Anna Massey (Barbara Jane
('Babs') Milligan), Barbara Leigh-Hunt (Brenda Margaret Blaney), Bernard Cribbins
(Felix Forsythe), Vivien Merchant (Mrs. Oxford), Michael Bates (Sergeant Spearman),
Jean Marsh (Monica Barling), Clive Swift (Johnny Porter), John Boxer (Sir George),
Madge Ryan (Mrs. Davison), George Tovey (Mr. Salt), Elsie Randolph (Gladys)
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