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Die Freundinnen
LE AMICHE (DIE FREUNDINNEN) beginnt
mit einem Panorama-Schwenk über Turin, begleitet von einer leichten Latino-Musik,
die man kein zweites Mal hört, so wie der Film nie wieder einen freien
Blick über die Stadt bieten wird. In einem Hotelzimmer macht sich Clelia
(Eleonora Rossi-Drago) zurecht und entdeckt mit dem Zimmermädchen, das
von ihrem Raum aus ins verschlossene Nebenzimmer will, den Selbstmordversuch
eines jungen Mädchens. Clelia holt Hilfe und wird von der Polizei ausgefragt:
sie kennt das Mädchen Rosetta nicht, ist selbst gerade in Turin eingetroffen.
Momina (Yvonne Fourneaux), eine elegante Dreißigerin, Freundin Rosettas,
kommt hinzu. Sie reagierte offensichtlich zu spät auf eine Botschaft des
Mädchens, ist herablassend gegenüber dem Polizisten, einen Moment
entsetzt über die Nachricht und dann von einer unsentimentalen Direktheit,
die Clelia unbehaglich stimmt, wenn Momina ihr im Hotelflur Rosettas üblichen
Lebensüberdruß skizziert.
Clelia betritt ein Ladenlokal,
d.h. eine Baustelle, trifft auf gleichmütige Arbeiter und wird wütend,
weil der Architekt seine Versprechungen nicht eingehalten hat. Clelia soll innerhalb
von vierzehn Tagen einen Modesalon einrichten und die Eröffnung organisieren,
zu der ihre Chefin aus Rom nach Turin kommen wird. Cesare (Franco Fabrizi),
der Vorarbeiter bzw. Assistent des Architekten Carlo (Ettore Manni), nimmt verständnisvoll
Clelias Schroffheiten hin. Aus ihnen wird spürbar, wie wichtig sie diese
Aufgabe nimmt, für die sie in ihre Heimatstadt zurückgekehrt ist.
Der Architekt Carlo, von Clelia herbeizitiert, lenkt dagegen mit jovialen Aufdringlichkeiten
von der Situation ab.
Clelia kontrolliert nun selbst
den Fortgang der Arbeiten. Ihr Umgang mit Cesare ist betont reserviert. Aber
sie prüft rasch ihr Äußeres in der spiegelnden Ladung eines
Glaserei-Autos, bevor sie ihn in die Pause begleitet, weil sie nichts anderes
zu tun hat. Sie freut sich wie ein Kind über sein einfaches Stammlokal,
wird wieder kühle Dame, wenn der Architekt, Vlomina und Mariella (Annamaria
Pancani) eintreten, die Szene beherrschen und sie als Bekannte von Rosetta für
ihre gemeinsame Clique einzunehmen versuchen. Momina ist das souveräne
Zentrum, Mariella die kapriziöse Vulgäre, Carlo der eitle Durchschnittsmann
in diesem Kreis. Man gefällt sich in einem locker anzüglichen Umgangston,
als seien ernsthafte Kränkungen undenkbar oder verpönt.
Weil ohne eigene Pläne, begleitet
Clelia die beiden Frauen zu einer Ausstellung von Nene (Valentina Cortese) und
Lorenzo (Gabriele Ferzetti), einem befreundeten Künstlerpaar. Rosetta begegnet
ihr wieder in der Galerie als schwarzäugiges, maskenhaftes Modell auf einem
Öl-Porträt von Lorenzo - es ist das erste Bild, die visuelle Einführung
von Rosetta. Clelia beobachtet den bösen Spott der Freundinnen für
Lorenzo, der Rosettas Schönheit verteidigt, dann die heftig eskalierende
Auseinandersetzung um die vielleicht erfolgreicheren Keramiken seiner Freundin
Neue. Auf diese dichte Plansequenz in der Galerie folgt eine kurze, persönliche
Mitteilung des Galeristen an Neue über ihre Verkaufserfolge in den USA.
Schwere Wagen bugsierend, lärmend
und animiert fällt die Clique in Rosettas Elternhaus ein, um das aus dem
Krankenhaus entlassene Mädchen zu einem Ausflug ans Meer abzuholen. Clelia
und Rosetta haben in der Gruppe dieselbe fremde, befangene Haltung. Am Meer
verstreut sich die Gruppe über das Plateau einer leeren Villenterrasse
und hinunter an den winterlichen Strand. Die Damen in perfekter Stadt-Kleidung,
die Herren in eleganten Mänteln, erregt man sich über den grauen Schmutz
der Landschaft, als sei die erwartete Enttäuschung eingetroffen und löst
sich in der allgemeinen Frostigkeit in kleine Gruppen auf. Mariella, jede Gelegenheit
nutzend, verführt Carlo in den Dünen; Momina stört die beiden
auf, ihr elegantes Täschchen schwenkend, und äußert eher Schadenfreude
als eifersüchtige Gekränktheit. Carlo, verlegen, hält Mariella
dazu an, ihr sandiges Kostüm zu reinigen, worauf sie ihm lachend erklärt,
die schönste Kleidung einer Frau sei ihre Haut. Lorenzo zeichnet Rosetta
in eine Streichholzschachtel. Nenes Annäherung an ihn wirkt falsch. Ein
Wort gibt das andere über das ungleiche Zahlenverhältnis von Männern
und Frauen in der Gruppe, und man findet das Meer den passenden Ort für
einen weiteren Selbstmordversuch der überzähligen Rosetta. Clelia
bricht angewidert die Spielregeln und verteidigt das Mädchen.
Mit dem Zug kehren beide allein
zurück. Rosetta vertraut Clelia ihre Verzweiflung an, keinen Sinn in ihrem
Müßiggänger-Leben zu finden. Clelia tröstet pragmatisch
und empfiehlt Rosetta zu arbeiten, - darin könne sie Unabhängigkeit
und Erfüllung finden. Sie bietet ihr eine Stelle als Verkäuferin an.
Rosetta weint, als sie Nonnen mit deren Pflegetöchtern sieht.
Clelias Nähe zu Cesare wächst,
bis sie ihn in einer Atmosphäre unpassender Delikatesse küßt:
sie in ihrem schweren Pelzmantel unter einer blanken Glühbirne in der allmählich
Gestalt gewinnenden Baustelle ihres zukünftigen Ladens.
Lorenzos unverkäufliche Bilder
werden im gemeinsamen Atelier an Nene zurückgeliefert, während der
Galerist ihr gleichzeitig am Telefon einen USA-Aufenthalt in Aussicht stellt.
Lorenzo und Rosetta spazieren am Fluß. Sie bewundert seine Kreativität,
ihn treibt ihre Faszination zu poetischen Liebesbekenntnissen. Über einen
massigen Betonblock am Straßenrand hinweg berühren sie sich. Clelia
stützt sich auf Cesares Stadtkenntnis bei der Suche nach Einrichtungsstücken
für den Salon. Sie gehen wie ein von der Nähe irritiertes Paar durch
Turiner Geschäftsarkaden. Indirekt, aber unmißverständlich weist
sie seine Vorstellungen von einer gemeinsamen Zukunft zurück, und die Auslagen
der von ihm empfohlenen Trödler stoßen sie derart ab, daß sie
ihm wegen der offensichtlichen Geschmacksdifferenzen nicht einmal in die Läden
folgen mag und in die Hinterhöfe ausweicht, als liefe sie davon. Plötzlich
glaubt sie die Gasse ihrer armen Kindheit wiedergefunden zu haben und träumt
sich in das einfache Leben zurück. Cesare nennt Clelias Rührung Nostalgie
angesichts ihres geglückten sozialen Aufstiegs. In einer Situation trauriger
Einsicht in das, was sie trennt, gehen sie entlang einer dunklen Mauer über
einen öden Platz auseinander.
Lorenzo und Rosetta in einem düsteren
Absteige-Zimmer in zögerndem Aufbruch. Sie möchte endlich Klarheit
und eine gemeinsame Zukunft, er weicht aus. Beim Hinausgehen muß sie sich
vor Passanten auf dem Flur verbergen. Diese Demütigung provoziert sie dazu,
die zwangsläufig bevorstehende Änderung ihres Verhältnisses Lorenzo
vor Augen zu halten. Rosetta erwähnt Nenes Trennung, d.h. ihre Übersee-Reise.
Er ist bestürzt, er wußte nichts davon. Clelia trifft sich mit den
Freundinnen in Mominas Apartement, Nene, ernst und still, hält sich zurück,
Momina trumpft auf als Genießerin ihres Status: sie lebt von ihrem geschiedenen
reichen Mann, - in der einzigen Form von Ehe, die sie akzeptiert. Mariella kostet
den Effekt ihres dekolletierten Kleids aus, Rosetta trifft ein in der Attitüde
einer glücklichen Geliebten. In der kulissenhaften Kunst-Intimität
der (nur durch Jalousien abzuteilenden) Nebenräume bei Momina eröffnet
sie den belustigten oder entsetzten Freundinnen ihre Liebe. Nene entdeckt die
Streichholzschachtel mit dem Porträt als Indiz. Carlo als neuer, heftiger
Moment-Liebhaber von Momina sprengt die Gruppe auseinander; diesen einen Abend
scheint Momina auf ihre Gefühle konzentriert.
Der Modesalon ist eingerichtet
und Clelia sucht mit professioneller Härte die geeigneten Mannequins aus.
Cesare ist aus ihrem Leben verschwunden.
Rosetta und Lorenzo flanieren
am Fluß im Regen, sie ganz glücklich-blinde Liebhaberin, er deprimiert.
Zu der Eröffnungsmodenschau kommt Rosetta zu spät. Im Gedränge
wird sie von Nene abgefangen. Im Hinterzimmer erklärt sie Rosetta ihren
Verzicht auf Lorenzo aus Verständnis für seine künstlerische
Krise, die sie als so komplex andeutet, daß Rosetta davon schockiert und
nicht entlastet erscheint. Der bloße Ereignis-Genuß von Momina und
Mariella durchkreuzt die Unterredung. Mariella will ihren neuen Freund heiraten,
nur um ein vorgeführtes Brautkleid erwerben zu können. Nach der Eröffnung
trifft sich die Clique in einer Trattoria der dunklen Prostituierten-Vorstadt,
okkupiert das Lokal und lädt aus unbedachter Herablassung die einfachen
Leute ein. Mominas und Mariellas Autonomie, Plätze zu arrangieren, wird
von ihnen genossen als obszöne Laster-Aura des Milieus. Beim Essen beleidigt
der Architekt Carlo den Maler Lorenzo mit einer Karikatur, die dessen Untalentiertheit
dem Gelächter preisgibt. Es kommt zu einer Schlägerei, Lorenzo flieht
hinaus und Rosetta, die ihm folgt, wird endgültig abgewiesen, weil sie
mit seiner Krise nichts zu tun habe und ihm auch nicht helfen könne. Sie
läuft entsetzt davon, während Lorenzo zu Nene zurückkehrt und
in ihrem Schoß seine Verirrung ausweint. Nene verzichtet für ihn,
für sie beide, auf ihre Amerika-Karriere. Am Morgen wird Rosettas Leiche
aus dem Fluß geborgen.
Im Modesalon treffen die Gesellschaftsdamen
zusammen. Vor ihnen und der Chefin bricht Clelias Ekel in einem Eklat aus: sie
beschuldigt sich und Momina, an Rosettas Tod schuld zu sein. Sie will fort und
kündigt. Im Hotel versucht sie verzweifelt, Cesare zu erreichen und verabredet
sich mit ihm im Foyer. Dort trifft sie aber zuvor auf ihre Chefin. In einem
kurzen intensiven Gespräch bekundet sie Verständnis für Clelias
widersprüchliche Gefühle. Was im Gespräch zwischen Clelia und
Rosetta noch wie ein Programm geklungen hatte,-verkörpert diese Frau
vital: ein bewußtes Leben in Arbeit und Autonomie um den Preis der Einsamkeit.
Sie bietet Clelia eine neue Aufgabe in Rom an. Clelia akzeptiert spontan und
bereitet ihre Abreise vor. Sie weicht dem Treffen mit Cesare aus, versucht aber
dann doch ein letztes Gespräch mit ihm zu verabreden. Am Ende beobachtet
Cesare, wie Clelia auf dem Perron erscheint, souverän einem Gigolo ausweicht,
ein letztes Mal ans Telefon geht, sich nervös und enttäuscht über
sein Nichterscheinen wieder und wieder nach ihm umschaut. Er folgt ihr, ohne
sich zu erkennen zu geben, und sieht dem abfahrenden Zug nach. Ein Bahnhofsangestellter
mit einem Gestell voll herabbaumelnder weißer Ruhekissen kreuzt seinen
Weg.
LE AMICHE basiert auf Cesare Paveses
Kurzroman Tra
Donne sole
(deutscher Titel Die
Freundinnen).
Antonioni arbeitete bei der Übertragung mit der italienischen Drehbuchautorin
Suso Cecchi D'Amico (wie schon bei den zwei vorangegangenen Spielfilmprojekten)
und der französischen Schriftstellerin Alba de Cespédès zusammen.
Er behielt die Kontrolle über den Adaptionsprozeß, indem er Suso
Cecchi D'Amico die Dramaturgie anvertraute und Alba de Cespedes die Dialoge.
Die eine arbeitete nachts, die andere tags, Antonioni vermittelte die Fragmente
und beide sahen sich kaum. Auf diese Weise entstand ein Skript, dessen Linie
der Vorlage folgt, aber die monologische Dichte des Buchs in widersprüchlichere
Situationen, in optische Stringenzen und plastische Figuren überträgt.
Pavese erzählt, wie eine
Frau mit fremd gewordener Vorgeschichte in den leerlaufenden Mechanismus der
Turiner Bourgeoisie und Bohème eintaucht, wie ihre Gegenwart und Zeugenschaft
des Selbstmordversuchs nur kurzfristig und scheinhaft die Spielregeln irritiert.
Die Hauptfigur Clelia beobachtet nüchtern und bitter. Sie konstatiert am
Ende die konsequentere Wiederholung von Rosettas Tat wie eine Bestätigung
ihrer Beobachtungen.
In LE AMICHE ist die Geschichte
aus verschiedenen Perspektiven erzählt, werden mehrere unvollendete, belastete
oder nur vorgebliche Liebesgeschichten parallel verschachtelt. Offener als in
allen anderen Filmen verläßt Antonioni hier seine bevorzugte Konstellation
von Paaren und Einzelgängern in einer Gesellschaft. In LE AMICHE baut er
sein Sujet eines Gruppenbildes aus einem Puzzle auf. Clelia wechselt darin die
Funktionen: Sie ist Protagonistin ihrer Geschichte, ist manchmal bloß
kritische Beobachterin, stört mit ihren Einlassungen oft die vorgezeichneten
Linien der Beziehungen auf. In diesem Rahmen gewinnt ihre Figur andere Konturen:
sie erlebt Turin, - beobachtet nicht nur, sie reagiert reich an Affekten, stellt
die Gegensätze der Gefühle und Gegebenheiten in physischen Äußerungen
dar. Sie entwickelt sich im Lauf der Ereignisse, entscheidet sich erst zur Einsamkeit,
hinterläßt über den Schluß hinaus (im Bild des verlassenen
Geliebten) wirksame Zeichen widerstreitender Sehnsucht nach Gemeinsamkeit.
Der Roman endet mit Clelias Notation
der Hilflosigkeit und Gleichgültigkeit, mit der Rosettas demonstrativer
Selbstmord von der Clique aufgenommen wird. Die Schlußszene von Antonioni
erzählt dagegen in Bildern äußerer Trennung die innere Geschichte
eines Paares, das zusammen kommen möchte und es nicht mehr kann. Die Szene
beschreibt mit der Emotion, die das Bild des passiv Abschied nehmenden Cesare
enthält, die Kehrseite von Clelias Autonomie: sie läßt einen
Vertrauten zurück.
Die Trauer trifft deshalb tief,
weil der Film zuvor verdoppelnd intensiv in den Begegnungen Clelia-Rosetta und
Clelia-Chefin die radikale Konsequenz mitteilt, Arbeit könne für eine
Frau ein Heilmittel gegen Liebesenttäuschungen sein, aber darüber
hinaus eine neue Qualität gewinnen als pragmatischer Bodensatz einer Utopie
der Selbstverantwortung. Rosetta klammert sich in der klassischen Rolle der
verletzbaren Liebhaberin an einen schwachen Mann; Clelia rettet ihre Verletzbarkeit.
Ihre Abreise setzt den Schlußpunkt unter die schon vorher offensichtliche
Trennung von Cesare. Er hat die Rolle des einzigen integeren Mannes in diesem
Film, aber diese Stärke macht ihn schwach: er ist nicht zynisch, korrupt
und erpresserisch wie die anderen Männer, aber er würde Bindung erlangen
und Clelias Status festlegen.
Die Geschichte des Modesalons
ist im Film die optische Korrespondenz zu dem programmatischen Frauen-Standpunkt
von Arbeit. Aus einer Baustelle verwandelt er sich allmählich in ein Interieur,
einen absichtsvoll ausgestatteten Ort der Mode und Verkleidungen. Der bloß
warenästhetische Reiz des Ambientes ist bei Antonioni aufgehoben, weil
er im Salon inmitten der Verkleidungsrituale intime Begegnungen, Bekenntnisse
und Gefühle inszeniert. Mode, Maskierungen, Zeichensetzungen, d.h. Wechselspiele
erscheinen im Film als sprachkräftige Attribute der Frauen, als sinnliche
Verbindung unter ihnen. Pelzmäntel, stimmige Ensembles von Kleidern, hochhackigen
Schuhen, Taschen und Handschuhen bestimmen die Auftritte, werden bewundert und
gegenseitig kommentiert, werden als Waffe eingesetzt (wie Mominas spitzer Absatz
in der Strandszene) oder als sinnverwirrende Maske ausgespielt (wie Mariellas
frivole Pointe von der Haut als schönstem Kostüm). Das übliche
Brautkleid am Ende der Modenschau provoziert eitle Verkleidungslust, ohne die
zeremoniale Bedeutung ernst zu nehmen. Mode erscheint so als Repräsentationsmittel
individuellen Selbstbewußtseins. Erst jenseits davon unterscheiden sich
die Frauen in ihrem Zynismus und ihrer Gleichgültigkeit.
Nene und Rosetta, die Frauen um
Lorenzo, sind weniger mondän gezeichnet. Madeleine Fischer spielt Rosettas
Angst vor Liebesverlust, ihre Schwärmerei und Krisenhaftigkeit fast nur
mit ihrem mädchenhaften Gesicht. Sie lächelt ihr schönstes Lächeln,
wenn Lorenzo sie dazu auffordert. Valentina Cortese wirkt schmal und streng,
aber spielt umso eindringlicher die gespaltenen Momente der Nene, die Lorenzo
aufopfernd liebt und vor der Rivalin zurücktreten will, um ihm aus der
Krise zu helfen. Wenn er zu ihr zurückkehrt, um Verzeihung bittet für
seine Affäre, damit Nene ihn nicht verläßt, nimmt sie ihn in
die Arme, als habe sie einen Geliebten verloren und ihn als Kind wiederbekommen.
Die einzige Szene des Films, in der ein Paar sich wiederfindet, ist inszeniert
als fatale Doppelbindung: Liebe führt hier zum Verzicht auf den eigenen
Weg und zu einem Zuwachs an mütterlicher Autorität. Gabriele Ferzetti
spielt den Maler Lorenzo als einen Mann, der nur dann sensibel reagiert, wenn
es um die Registrierung und Abwehr aller Indizien für seine Mittelmäßigkeit
geht. Er ist ein etwa dreißigjähriger Mann mit der zerfurchten Stirn
eines Gealterten und den Ausflüchten, Schroffheiten und Erpressungsmanövern
eines Kindes.
Yvonne Fourneaux als Momina ist
die älteste, erfahrenste und grausamste Frau, die rätselhafteste Person
des Films. Bis zum Ende läßt sie keinen Blick hinter ihre Fassade
zu. Sie ist attraktiv und sicher, sie arrangiert alle Menschen um sich herum
und wirkt in keiner Szene berührt. Mominas perfekte Damenhaftigkeit und
bewußter Zynismus umgeben sie mit einer Aura, als böser Engel über
den Ereignissen zu stehen. Der Roman Paveses gibt ihr die Schuld an Rosettas
Verzweiflungstat, weil Momina das Mädchen nach einer lesbischen Liebesaffäre
mit Schuldgefühlen und enttäuschten Hoffnungen sitzen läßt.
Der Film vermeidet dieses Tabu, gibt der Figur aber eine faszinierende Souveränität,
an der sich alle reiben. In ihr mischen sich moderne Züge mit denen einer
mythischen Königin.
Claudia Lenssen
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: Michelangelo Antonioni; Band 31 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek
von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien
1987.
Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung der Autorin Claudia Lenssen und des Carl Hanser Verlags.
Die
Freundinnen
LE AMICHE
Italien 1955
Regie: Michelangelo Antonioni - Sujet: Michelangelo Antonioni, nach
der Erzählung Tra donne sole von Cesare Pavese. - Buch: Suso Cecchi D'Amico, Michelangelo Antonioni,
Alba De Cespédès. - Kamera: Gianni Di Venanzo. - Schnitt: Eraldo
Da Roma. - Ton: Ennio Sensi, Giulio Canavero, Emilio Rosa. - Musik: Giovanni Fusco; Interpreten:
Libero Tosoni (Gitarre), Armando Trovajoli (Klavier). - Bauten: Gianni Polidori. - Regie-Assistent: Luigi Vanzi. - Darsteller: Eleonora Rossi-Drago
(Clelia), Gabriele Ferzetti (Lorenzo), Franco Fabrizi (Cesare Pedoni, Architekt),
Valentina Cortese (Neue), Yvonne Fumeaux
(Momina Di Stefani), Madeleine Fischer (Rosetta Savoni), Anna Maria Pancani
(Mariella), Luciano Volpato, Maria Gambarelli (Clelias Arbeitgeberin), Ettore
Manni (Carlo, Assistent des Architekten). - Produktion: Trionfalcine, Rom. -
Produzent: Giovanni Addessi. - Produktionsleitung: Pietro Notarianni. - Gedreht
in Turin. - Format: 35 mm, sw. – Original-Länge: 105 min. – Deutsche Länge: 95 min. - Uraufführung:
7.9. 1955, Filmfestival Venedig. - Römische Erstaufführung: 8.11. 1955. -
TV: 16.1. 1961 (ARD). - Verleih: ohne. In der BRD wurde der Film zunächst
unter dem Titel »Freundinnen ohne Moral« gestartet.
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