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Eine
Frühlingserzählung
Synthetische
Urteile a priori
Sie packt ihre Sachen und verlässt eine Wohnung.
Sie betritt eine andere Wohnung und lässt ein paar Sachen dort. Die eine
Wohnung, die ihres Freundes, ist leer, die andere, ihre eigene, vorübergehend
bewohnt von einer Cousine. Sie scheint momentan nirgendwo zu Hause. Die Wohnung
ihres Freundes, der auf Reisen ist, kann sie nicht ertragen. Er habe eine andere
Art der Ordnung wie sie, und das könne sie nur ertragen, wenn er da sei.
Auch auf einer Party, zu der sie eine Bekannte eingeladen hat, fühlt sie
sich nicht wohl. Sie kennt niemanden, sitzt auf einem Sofa und beobachtet die
Gäste. Doch dann setzt sich eine junge Frau neben sie. So lernt Jeanne
(Anne Teyssèdre) die 18jährige Natacha (Florence Darel) kennen,
eine lebendige junge Frau, die sie einlädt, bei sich daheim zu übernachten,
bis Jeannes Cousine ihre Wohnung wieder verlassen hat.
Etwas Alltägliches geschieht, etwas, was jeder
so oder so schon einmal erlebt oder miterlebt haben könnte. Eric Rohmer
filmt das Banale, das Gewöhnliche, das überall geschehen könnte,
in stillen Bildern, zumeist ohne Musik, die Rohmer in einem Film als eher störend
empfindet. Eine Frau packt ein, packt aus, geht weg, kommt an, sie sieht gelangweilt
aus, aber sie sagt, sie langweile sich nie. Sie ist Lehrerin für Philosophie,
und kaum hat sie Natacha kennen gelernt, bemerkt man eine fast natürliche
Sympathie zwischen der 18jährigen und der etwas über 30jährigen.
Es ist diese Art von Sympathie, die sofort gegenwärtig ist, wenn sich zwei
solche Menschen kennen lernen - als ob sie sich schon ewig kennen würden,
als ob sie miteinander aufgewachsen wären.
Doch dieser erste Eindruck, dieser erste Blick auf
zwei Frauen, trügt insofern, als beider Beziehung durch eine Jeanne zunächst
verborgen bleibende Absicht Natachas beeinflusst wird. Natacha erzählt
von ihrem Vater, der von der Mutter getrennt lebt, auf die Natacha ständig
schimpft, und der mit einer Frau, Eve (Eloïse Bennett), liiert ist, die
nicht viel älter als ihr Vater Igor (Hugues Quester) ist. Natacha hat einen
Freund, der fast so alt ist wie ihr Vater. Und Natacha mag Eve überhaupt
nicht. Eve liebe ihren Vater nicht, erzählt sie Jeanne, und er glaube nur,
Eve zu lieben.
Geheimnisse. Eine Halskette ist verschwunden, die
Natacha aus dem Familienschmuck zu ihrem 18. Geburtstag erhalten sollte. Sie
beschuldigt Eve, sie versteckt zu haben. Und sehr schnell scheint erkennbar,
welche Absichten Natacha verfolgen könnte. Jeanne wäre ihr als Freundin
ihres Vaters viel lieber als Eve. Natacha versucht zu kuppeln - oder scheint
dies nur so? In einem Landhaus der Familie treffen sich alle vier, arbeiten
im Garten, essen zusammen - und Natacha bricht einen Streit vom Zaun, um Eve
zu verjagen und möglicherweise dadurch Igor und Jeanne näher zusammenzubringen.
Das scheitert.
Alles in dieser Personenkonstellation scheint auf
eine teils mysteriöse Weise verschoben. Igor, der ruhige, konfliktscheue
Vater, lebt mit einer Frau zusammen, von der man nicht weiß, ob er sie
wirklich liebt. Auch von Eve, die Rummel um sich herum braucht, weiß man
dies umgekehrt nicht. Man weiß also nicht, was beide zusammenhält.
Dazwischen steht Natacha, die offenbar intrigiert, wenn auch auf eine liebevolle
Weise - sozusagen ohne Hintergedanken, eine "offene Intrige", eine
Wunschvorstellung, auf Sympathie gegründet zu Jeanne. Jeanne steht immer
etwas abseits, die ordentliche Jeanne, bei der alles seinen Platz haben muss,
Jeanne, die Philosophie studiert hat, und doch im Alltag die mathematisch präzise
Ordnung liebt. Sie erkennt schnell, was Natacha beabsichtigen könnte, ohne
ihr deswegen allzu böse zu sein. Und doch bleiben Zweifel. Ist es wirklich
eine bewusst inszenierte Intrige, Eve und Igor auseinander- und ihren Vater
mit Jeanne zusammenzubringen? Oder ist es eher ein unbewusster Wunsch, dem sie
folgt, ohne es richtig zu bemerken?
Rohmer lässt dies auf seine typische Art offen,
interpretierbar, diskutierbar und - wenn man so will - für jeden auf seine
Weise zum Fühlen nahe. Rohmer steckt sozusagen die Grenzen ab, in denen
sich das Geschehene platziert. Seine Räume sind die Zimmer der Wohnungen
Jeannes, des Landhauses und der Stadtwohnung Igors und Natachas einerseits,
und der prächtige kleine Garten um das Landhaus herum auf der anderen Seite.
In diesen Grenzen bewegen sich die vier Personen: ein Vater, eine Geliebte,
eine Tochter und eine Außenstehende, die in die Konstellation hineingezogen
wird. Und damit eine potentielle Ex-Geliebte, eine potentielle künftige
Geliebte und eine potentiell künftig zufriedene Tochter - wenn man es aus
Natachas Sicht betrachtet.
Betrachtet man das Geschehen aus Jeannes Sicht, so
spürt sie zunehmend, instrumentalisiert zu werden. Sie testet ihr Verhältnis
zu Igor aus - und sie merkt, dass da nichts ist, was man als Liebe bezeichnen
könnte. Sie wartet auf ihren Freund, dessen Art der Ordnung sie allein
nicht ertragen kann. Und damit gewinnt die Geschichte ein weiteres unklares
Moment: Liebt sie ihren Freund? Rohmer steckt hier wiederum Grenzen ab, die
Grenzen, in denen sich die Beziehungen der Personen entwickeln, Beziehungen,
von denen unklar bleibt, wer hier eigentlich wenn liebt oder nur glaubt zu lieben.
Am Schluss bleibt nur eines (relativ) klar: die Freundschaft zwischen Jeanne
und Natacha ist wohl wirkliche Freundschaft. Sie überdauert nämlich
einen Konflikt zwischen beiden Frauen. Was die Beziehungen der vier Personen
ansonsten betrifft, so kreist die Frage danach letztlich darum, welche Art von
Zuneigung jede(n) einzelne(n) bewegen mag. Igors Gefühle bleiben im Dunkeln,
weil sein Verhältnis zu Eve undurchschaubar bleibt. Jeannes Gefühle
ebenso (ihr Freund bleibt für uns unsichtbar). Auch Eves Gefühle sind
nicht wirklich erkennbar. Nur bei Natacha scheint deutlich zu sein, dass sie
sich eine andere Stiefmutter wünscht, eine Geliebte ihres Vaters, die zugleich
ihre Freundin wäre.
Dieses Undurchschaubare, Zweifelhafte, Geheimnisvolle,
mit dem Rohmer uns konfrontiert, schlägt auf uns selbst zurück. Es
offenbart die Frage nach unseren eigenen Gefühlen - gerade weil Rohmer
etwas Alltägliches zu etwas Besonderem inszeniert. Die Personen seiner
Filme sind uns so nah, als wenn es Nachbarn, Freunde, Bekannte wären -
oder wir selbst. Und diese Personen fragen uns letztlich nach der Wahrhaftigkeit
unserer eigenen Gefühle; sie halten uns einen Spiegel vor, in dem wir uns
über das Geschehen des Films sozusagen selbst beobachten können. Sie
fragen uns zudem nach unseren eigenen Grenzen, in denen wir uns bewegen können,
bzw. danach, ob wir sie tatsächlich sprengen können.
Bei dem gemeinsamen Essen diskutieren Eve und Jeanne,
die Eve sehr sympathisch findet, philosophische Fragen. Z.B. die Frage "Was
sind synthetische Urteile a priori?" (a priori bedeutet: Wissen, das allein
durch Denken entstanden und als solches nicht durch Tatsachenerfahrungen gedeckt
ist, aber als Ausgangspunkt zu weiteren Erkenntnissen unumgänglich ist,
z.B. die kürzeste Strecke zwischen zwei Punkten ist die Gerade, oder A=C,
B=C, daraus folgt A=B). Wir haben hier im Film eine Stelle, an der Rohmer in
einer Art "trockenen Komik" über eine erkenntnistheoretische
Frage zum Kern des Geschehens vorrückt - so sehe ich dies jedenfalls -,
ohne dass die vier Personen dies erkennen würden. Ist Liebe etwas, das
aus Erfahrung erwächst?
"Conte de printemps" gehört zu einem
Zyklus von vier Filmen des französischen Regisseurs, in dem er sich auf
unterschiedliche Weise solchen Fragen stellt ("Conte d'été",
"Sommer", 1996; "Conte d'automne", "Herbstgeschichte", 1998; "Conte d'hiver", "Wintermärchen", 1992).
DVD
Leider gibt es diesen Film nicht auf einer deutschsprachigen
DVD - wie so viele französische Filme -, dafür ist er in französischer
Originalsprache auf einer MGM-DVD in den USA und Großbritannien zu bekommen,
allerdings nur mit englischen Untertiteln. Für Rohmer-Liebhaber natürlich
trotzdem ein Muss. Die DVD bietet den Film in Bild und Ton exzellent, enthält
allerdings kein zusätzliches Material. Eine weitere Edition von Ingram
Entertain liefert den Film in englischer Sprache.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist zuerst erschienen
bei:
Eine
Frühlingserzählung
(Conte
de printemps)
Frankreich
1990, 108 Minuten
Regie:
Eric Rohmer
Drehbuch:
Eric Rohmer
Kamera:
Luc Pagès
Schnitt:
María Luisa García
Darsteller:
Anne Teyssèdre (Jeanne), Hugues Quester (Igor), Florence Darel (Natacha),
Eloïse Bennett (Eve)
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