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Full
Metal Jacket
Die
Frage ist oft diskutiert worden: Kann es einen Antikriegsfilm geben? Truffaut
hatte behauptet: Nein, Antikriegsfilme sind unmöglich, weil alle Filme
über den Krieg letztlich Kampf als eine Art Vergnügen erscheinen lassen,
als Abenteuer. Man könnte die Frage erweitern: Sind nicht Antikriegsfilme
schon deswegen unmöglich, weil das Kriegsgeschehen selbst, das in solchen
Filmen weitgehend bestimmend ist, kaum Auskunft über die Ursachen, Konflikte,
Entscheidungen usw. geben kann, die zu einem Krieg führen? Der amerikanische
Kriegsfilm der letzten 30 Jahre hatte vor allem den Vietnamkrieg zum Thema.
Während neuere Filme dieser Art wie etwa »We were soldiers«
Vietnam zum Anlass für eine neue produktive Kriegsideologie ge- und missbrauchen,
gab sich Kubricks »Full Metal Jacket« noch ganz im Sinne eines Versuchs,
im Kriegsgeschehen selbst die Ablehnung des Krieges als Mittel der Politik zu
finden.
Der
Film stieß auf ein zwiespältiges Echo. Besonders der zweite Teil,
der in Vietnam spielt, wurde als missglückt betrachtet.
Parris
Island, Rekrutenausbildung für den Einsatz in Vietnam, etwa 1968. Die Gefreiten,
darunter J. T. Davis, genannt Private Joker (Matthew Modine), Leonard Lawrence,
genannt Private Gomer Pyle (Vincent D’Onofrio) und Private Cowboy (Arliss Howard)
unterliegen der strengen Ausbildung durch Gunnery Sergeant Hartman (R. Lee Ermey,
früher selbst Rekrutenausbilder), der sich mit folgenden Worten vorstellt:
»I am Gunnery Sergeant Hartman, your Senior Drill Instructor. From
now on, you will speak only when spoken to, and the first and last words out
of your filthy sewers will be ›Sir‹. Do you maggots understand that? [...] Bullshit!
I can’t hear you; sound off like you’ve got a pair!«
Hartmans
Auftrag ist sonnenklar. Und Kubrick zeigt in diesem ersten Teil des Streifens,
wie Hartman ihn versteht: »You are nothing but unorganized garbage pieces
of amphibian shit.« Aus dieser »Scheiße« sollen Kampfmaschinen
produziert werden – im wahrsten Sinn: produziert werden. Hartman striezt den
»Abfall«, den er vor sich hat, durch den Dreck, bis zum Umfallen.
Seine Sprache besteht aus einer Mischung von sexuellen Anspielungen und erbärmlichen
Erniedrigungen. Die Waffe, sagt er z.B., ist für die Rekruten das einzige
Weibliche, das akzeptiert wird. Mit ihr haben sie ins Bett zu gehen. Jeder,
der Hartmans Meinung nach einen Fehler gemacht hat, fragt er, ob er ein dreckiger
Schwanzlutscher sei.
Besonders
im Visier hat Hartman den übergewichtigen Private Leonard, der es z.B.
nicht schafft, Hindernisse zu überwinden. Hartman macht ihn fertig. Erst
als er sieht, wie treffsicher Leonard schießen kann, scheint er für
ihn etwas zu taugen. Die anderen Rekruten glauben, ihre Subjektivität,
die hier aus ihnen heraus geprügelt werden soll, beibehalten zu können,
wenn sie die Ausbildung ertragen, durchstehen. Leonard jedoch schafft dies nicht.
Kurz vor dem geplanten Einsatz in Vietnam kommt es zu einer blutigen Katastrophe
...
Vietnam.
Private Joker wird als Kriegsberichterstatter bei der Militärzeitung »Stars
& Stripes« eingesetzt und hat Private Rafterman (Kevin Mayor Howard)
zur Seite. Joker trägt auf seinem feschen Military-Outlook ein Peace-Zeichen,
fällt durch sarkastische Bemerkungen auf und kann sich eine Weile lang
dem Kriegsgeschehen entziehen, während die anderen in den Tod ziehen. Doch
als die Tet-Offensive naht, werden auch Joker und Rafterman in eine kämpfende
Einheit einbezogen. Dort treffen sie u.a. auf Animal Mother (Adam Baldwin),
einer jener Soldaten, wie sie sich Hartman wünschte: eine Killermaschine.
Als die Einheit in einem verwüsteten Ort unter Beschuss der Nordvietnamesen
gerät und ein Scharfschütze mehrere Soldaten aus dem Hinterhalt tötet,
beschließen die anderen, dem Heckenschützen den Garaus zu machen.
Sie nähern sich dem Gebäude und können den Schützen stellen.
Eine vietnamesische Frau ...
Kubrick
schildert die Rekrutenausbildung in Parris Island in einer Intensität,
wie ich es selten in einem anderen Film gesehen habe. Die gewaltsame Metamorphose
der Privates in Killermaschinen wird in allen Einzelheiten nahegebracht. Die
Verzweiflung Private Gomer Pyles, die in einem psychischen Desaster endet, das
sich gegen Hartman und ihn selbst richtet, ist eine Entwicklung, die sich im
zweiten Teil des Films auf analoge Weise wiederholt. Die Beschwörung der
»Werte der westlichen Welt«, der Freiheit usw. wird im ersten Teil
des Films mit einer Realität konfrontiert, in der dies alles nicht mehr
zählt. Die Moral dieser Rekrutenausbildung ist: Nur wenn Du Dich zur ent-subjektivierten
Kampfmaschine formen lässt, kannst Du diese Werte verteidigen. Aber diese
Moral entpuppt sich als bloßer Schein. Hartman sieht in den Rekruten »ungeformte
Scheiße«, was nichts anderes bedeutet, als dass all das, was sie
bisher waren, woran sie glaubten und wofür sie lebten, nicht nur nichts
bedeutet, sondern wertloser Dreck ist. Schon das offenbart, dass es in Hartmans
Ausbildung und im Krieg nicht um die Verteidigung dieses als »Scheiße«
gebrandmarkten Lebens geht.
Und
noch etwas stellt sich als Illusion heraus: Die Rekruten – allen voran der zynische
Private Joker, der glaubt, seine moralischen Werte während der Ausbildung
und erst recht im Kriegsgeschehen aufrecht erhalten zu können – gehen nach
Vietnam und erweisen sich (in unterschiedlichem Ausmaß) als das, was sie
werden sollten: als Kampfmaschinen. Ihr Glaube, im Krieg Regeln einhalten zu
können, erweist sich als trügerisch. Private Jokers Moral kann dem
Kampfgeschehen und seinen Gesetzen keinen Einhalt gebieten. Das Gebäude,
in dem sich der Heckenschütze verborgen hält und aus dem er mehrere
Soldaten erschießt, wirkt wie ein teuflischer Tempel. Dort wohnt kein
Gott, keine Moral, keine Gerechtigkeit, keine Menschlichkeit. Von dort kommt
nur der Tod. Als die Soldaten das Gebäude erreichen und den Heckenschützen
stellen, sehen sie eine junge Frau am Boden liegen, die – tödlich verletzt
– darum bettelt, man solle sie erlösen. Private
Joker sagt zu den anderen: »We can’t just leave her like this.«
Die
anderen überlegen, einige wollen gehen, Private Joker wiederholt, dass
man sie nicht einfach so da liegen lassen könne. Es ist ruhig, die Worte
werden fast geflüstert. Private Joker erschießt die Frau – eine Frau,
die ihre Heimat verteidigen wollte.
Die
Parallelen zwischen den Szenen in Parris Island und Vietnam sind frappierend.
Die Rekrutenausbildung endet mit dem Tod Hartmans und Private Gomer Pyles. Private
Joker ist entsetzt, hilflos – und geht nach Vietnam. Die Gesetze des Krieges
gehen schon in der Rekrutenausbildung über Leichen, ohne Gnade. Private
Joker hatte immer wieder versucht, Gomer Pyle zu helfen, damit ihn Hartman nicht
immer wieder ins Visier nimmt. Die Tötung Hartmans durch Gomer Pyle und
dessen anschließender Selbstmord sieht Private Joker als moralische und
menschliche Katastrophe. Doch sein Name ist Symbol. Er ist ein Joker im Spiel
des Krieges. In Vietnam tötet er eine Heckenschützin und vollzieht
diese Kriegsregeln, wie er es nie gewollt hatte. Er ist längst Teil des
Krieges. Seine moralische Überzeugung, seine Distanz zum Krieg, sein schwarzer
Humor, all das hat hier nichts, gar nichts zu bedeuten. Was sich in der Rekrutenausbildung
abspielte, wiederholt sich auf dem Kriegsschauplatz. Gomer Pyle ist tot, Hartman
ist tot, die junge vietnamesische Heckenschützin ist tot. Der Krieg geht
weiter, noch lange Jahre, mit Flächenbombardements vor allem gegen die
Zivilbevölkerung, mit Napalm, mit Kriegsverbrechen wie in My Lai, mit Folter
und Vergewaltigung.
Kubricks
Film enthüllt zwei Welten, die unterschiedlichen Regeln gehorchen, obwohl
die Welt des Krieges der Welt des Nicht-Krieges entspringt. Er entzaubert die
Illusion, über Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung, zur Behandlung
von Kriegsgefangenen usw. könne dem Krieg in seinen Exzessen irgendeine
Grenze gesetzt werden. Ist es Mord, wenn Gomer Pyle seinen Peiniger ermordet?
Sicher, hätte er sich danach nicht selbst umgebracht, wäre er vor
ein Kriegsgericht gestellt worden. Denn diese Tat war die eines Verzweifelten,
der seine Subjektivität nicht verlieren wollte, aber daran irre geworden
ist: eine Tat aus der Nicht-Kriegs-Welt gegen die Welt des Krieges.
Ist
es Mord, als Private Joker die vietnamesische Heckenschützin tötet,
die ihn selbst darum gebeten hat? Ist es ein »Gnadenschuss«? Das
spielt keine Rolle. Im Krieg ist – wenn auch nicht rechtlich – alles erlaubt.
Die Bestrafung von Kriegsverbrechen ist mehr ein Zufall, denn die Regel, und
geschieht nur dann, wenn die Welt des Nicht-Krieges der Welt des Krieges einmal
Grenzen setzen kann. Aber die Welt des Nicht-Krieges produziert immer wieder
die Welt des Krieges, und so bleibt die Bestrafung die Ausnahme und der Krieg
mit all seinen Exzessen die Regel.
Für
die junge Frau, die offenbar tödlich verletzt wurde, war es vielleicht
Erlösung von ihrem Leid. Aber was blitzte hier in Private Joker auf? Ein
Rest von Mitgefühl, selbst für einen Kriegsgegner, der gerade etliche
Kameraden in den Tod geschickt hatte? Ein Rest von Mitgefühl, das sich
ausgerechnet im Tod materialisiert?
Kubricks
»Full Metal Jacket« ist ein unpatriotischer Film, der in keiner
Weise den Krieg glorifiziert. Er legt auf skrupellose Art offen, dass ein Soldat
keine Chance hat, etwas aus der ersten Welt – der Nicht-Kriegs-Welt – herüber
zu retten, es sei denn den »Gnadenschuss«. Private Joker steht am
Schluss in dem brennenden Gebäude, erschießt die junge Vietnamesin,
als wenn es ein alltäglicher Akt wäre. Das ist es auch. Jedenfalls
im Krieg. Er vollzieht dies ruhig, ohne Skrupel, ohne Angst, ohne eine Miene
zu verziehen. Der Schuss, den er auf die Frau abgibt, ist die zweite Kapitulation,
die er – und wir – erleben müssen: Die Kapitulation vor dem Krieg.
Fazit:
Antikriegsfilm?
Ja, ich glaube »Full Metal Jacket« ist ein Antikriegsfilm, in dem
es Kubrick gelang, aus der Rekrutenausbildung und dem Kriegsgeschehen heraus
ein starkes und zugleich verstörendes Gefühl gegen den Krieg zu entwickeln.
Truffauts Prophezeiung, man könne den Krieg nicht darstellen, ohne in die
Falle zu tappen, den Kampf als irgendwie vergnügliche Action zu inszenieren,
erweist sich in diesem Film als falsch. Wenn »These boots were made for
walking, and that’s just what they do« von Nancy Sinatra erklingt, erhält
Kubricks Botschaft (und der Song selbst) eine sarkastischen Ausdruck: Deine
Stiefel trägst Du für den Krieg, für nichts anderes.
Ulrich
Behrens
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in:
Zu diesem Film gibt es im archiv mehrere Kritiken
Full
Metal Jacket
(DVD)
-
Darsteller: Vincent D'Onofrio, Matthew Modine, R. Lee Ermey, Adam Baldwin
-
Regie: Stanley Kubrick
-
FSK: 16
-
Musik: Vivian Kubrick, Mick Jagger
-
Buch: Stanley Kubrick, Gustav Hasford, Douglas Herr
-
Produktion: USA/Großbritannien 1987
-
Label: Warner
Zusatzinformationen:
•
Sprachen: Deutsch (Dolby Digital 5.1) Englisch (Dolby Digital 5.1) Spanisch
(Dolby Digital 5.1)
•
Untertitel: Deutsch, Englisch, Spanisch, Niederländisch, Schwedisch, Norwegisch,
Dänisch, Finnisch, Portugiesisch, Hebräisch, Polnisch, Griechisch,
Tschechisch, Ungarisch, Icelandic, Kroatisch
•
Bildformat: 4:3
•
Dolby, Surround Sound
•
Laufzeit: 112 Minuten
•
DVD Erscheinungstermin: 23. August
2001
DVD
Features:
•
Original Kinotrailer
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