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Ganz
und gar
Aus der Haut fahren möchte man, ehrlich, man
möchte sich den Verantwortlichen zur Brust nehmen und ihn ordentlich durchschütteln.
Da kommt also dieser kleine Film eines noch recht jungen Regisseurs daher, schafft
es ganz wunderbar, seine zwar nicht unbedingt originelle Geschichte im positiven
Sinne des Wortes eindringlich und intensiv zu erzählen, da hat man ein
ganzes Set junger, frischer, unverbrauchter, vor allem aber höchst talentierter
Schauspieler und was passiert? Am Ende wird alles schlagartig über den
Haufen geschmissen, jedwede Ambition in einer dreifachen Portion Schlagsahne
ertränkt, stellt damit eigentlich den gesamten Film, die mühsam entwickelte
Tragikomödie, in Frage und macht einen, nur kurz zuvor noch gutgelaunt
und froher Dinge, dass es endlich mal einer in Deutschland irgendwie richtig
gemacht hat (ein paar Unzulänglichkeiten schieben wir nachsichtig aufs
Alter ab), kopfschüttelnd vom Film ablassen.
Wozu das, fragt man sich. Die Geschichte von Torge
- „24 Jahre, Zimmermann und mein Leben ist geil, die Frauen stehen auf mich
und meine Freunde sind einfach Klasse“ -, der nach einem äußerst
vermeidbaren Unfall sein Bein, nicht aber seine dandy-hafte Schnottrigkeit,
seinen Zynismus verliert, wurde nun wirklich feinfühlig und interessant
etabliert. Die Implikationen des Unfalls im direkten sozialen Umfeld etwa, das
mit dem Unfall und seinen Folgen, genau wie er, nicht so recht zurande weiß,
in einer Zeit zudem, in der eigentlich die Weichen für die weitere Zukunft
endgültig und final gestellt werden, die meisten sich ins private Eheglück
flüchten. Wie lebt man dann, auf sich zurückgeworfen, wie leben die
anderen mit einem, vor allem der gute Freund Holger, dessen Fahrlässigkeit
unter Umständen – die Schuldfrage brodelt stets untergründig, wird
aber nur selten angesprochen, sorgt vielmehr für einzelne Kulminationsspitzen
– für das Unglück verantwortlich ist und der zudem in allen Belangen,
die Torge für das weibliche Geschlecht einst attraktiv machten, etwas weniger
vorteilhaft ausgestattet ist. Wie lebt dieser Freund also nun mit Torge, der
sich nunmehr – teils aus Verzweiflung, bei der Verheiratungstombola leer auszugehen,
teils aus Boshaftigkeit – an Holgers Ex ranmacht, nachdem diese den als Angebot,
doch zusammenzuziehen, getarnten Heiratsantrag zum Anlass für die Trennung
nahm. Überhaupt die Ehe, diese Institution, um die sich als heimliches
Zentrum alles zu drehen scheint, in die sich alle flüchten, an der viele
zweifeln und in der keiner glücklich zu werden scheint. Einzig möglicher
Lebensentwurf in der Provinz, trotz allem, wider besseren Wissens eigentlich,
von den meisten angestrebt.
Der Versehrte wird in diesem Film nicht zum großen
Einsichtigen, er kommt nicht zur Ruhe, wird nicht zum verständnisvollen
Eremit, wie das ja im Klischee gerne behauptet wird. Im Gegenteil, er will es
noch immer wissen, springt in seinem „Nicht-Wahrhaben-Wollen“ auch schon mal,
trotz Prothese am Stumpf, von der Brücke auf ein vorbeifahrendes Schiff,
ein alter Ritus des portraitierten Männerbundes. Oder wettet eben mit seinem
Freund, dass er dessen Ex ein „Ja-Wort“ abringen könnte. Dass er es noch
immer drauf hat, „einfach so“.
Ein ganz wunderbarer, sorgfältiger, gänzlich
unprätentiöser Film über Adoleszenz in der Provinz und die Schwierigkeit
des Lebensentwurfs, noch dazu unter erschwerten Bedingungen, fernab von Aktion-Mensch-Betroffenheit
hätte das werden können, wäre da nicht der bereits angesprochene
Schluss. Der kommt unvermittelt, wirkt nahezu übergepfropft und macht GANZ
UND GAR – leider, man muss das wirklich betonen – im Endspurt noch zum Ärgernis.
Ohne ersichtlichen Grund ist aus heiterem Himmel alles wieder gut: Am eigentlich
größtmöglichen Entfremdungspunkt zwischen den Jungs und den
Mädchen der Clique, am größtmöglichen Entfremdungspunkt
zum Lebensentwurf überfällt einen der Film förmlich mit der,
gerade in Anbetracht des vorangegangenen Geschehens, überaus zweifelhaften
Einsicht, dass man doch einfach nur mal wieder lachen, bzw. sich gegenseitig
zum Lachen bringen müsse, dann wäre doch alles wieder gut, auch in
der Provinzalltagshölle. Dann wird eben auch geheiratet, ganz flax, einfach
so und zwar sogleich in den nächsten Kameraeinstellungen. Alle haben sich
lieb, eitel Sonnenschein, die Zukunft ist die Ehe und das ist superduper! Warum
auch immer, fragt man sich fassungslos im Dunkel des Saals, denn eine Erklärung
für diesen Stimmungswechsel binnen weniger Sekunden bleibt der Film, will
er sich nicht komplett verleugnen, schuldig.
Den Saal verlässt man sauer, unheimlich sauer
auf jenen Verantwortlichen, der einen - nach der 90. Minute noch, man muss sich
das mal vorstellen! - um einen wunderbaren Film gebracht hat.
Thomas Groh
Dieser Text ist zuerst erschienen
bei: www.filmforen.de
Ganz
und gar
Deutschland
2002 - Regie: Marco Kreuzpaintner - Darsteller: David Rott, Mira Bartuschek,
Hanno Koffler, Maggie Peren, Oliver Boysen, Diana Amft, Herbert Knaup, Ruth
Glöss - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 6 - Länge: 93
min. - Start: 5.6.2003
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