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Gastmahl
der Liebe
Italien, 1964. Pier Paolo Pasolini, produziert,
laut Alberto Moravia in diesem Film, etwas, „was die Franzosen cinema
verité nennen würden“.
2007 könnte das „Gastmahl der Liebe“ als Doku durchgehen, genauer: als
ein lockerer Interview-Film zum Thema Sexualität, heute in jeder zweiten
Infotainment-Fernsehsendung üblich; im erzkatholischen Land Italien von
1964 ein revolutionäres Wagnis.
Nicht so sehr die sexuellen Gepflogenheiten,
sondern die Korrelationen zwischen Alltagsnormen und Sexualität waren es,
die Pasolini interessierten, also die zwischen rigider Moral, die die Freiheiten
der Frauen einschränkt und die der Männer erweitert, und normierter
Sexualität. Pasolini kommt auf den bigotten politischen Umgang mit der
Prostitution zu sprechen und kitzelt (ohne sich als Schwuler zu outen) die Homosexuellenfeindlichkeit,
(die ja eigentlich eine Homophobie ist) seiner männlichen Gesprächspartner
heraus. Dabei unterscheidet der Witterer eines neuen, nicht mehr wie in Mussolini-Zeiten
oktroyierten, sondern nun internalisierten Faschismus in der Art seiner Fragestellungen
zwischen den Adressaten aus Nord- oder Süditalien, zwischen Männern,
Frauen, oder auch Kindern („Jesus hat das Baby in das Tuch gelegt, und der Storch
hat es gebracht“), sowie zwischen Reich und Arm.
Während unter den Jugendlichen der
Oberschicht Turins schon so etwas wie sexuelle Aufgeschlossenheit und sexuelle
weibliche Emanzipation zu herrschen scheinen, die sich mit der der siebziger
Jahren messen lassen könnten, gibt des im armen Süden, in Siziliens
Hauptstadt Palermo, nur zwei junge Frauen, die überhaupt vor der Kamera
über die Themen Sexualität und Ehe-Scheidung zu sprechen wagen.
Männer, die jovial lächelnd
erklären, dass sie ihre Frau im Fall der Untreue erdolchen würden,
Frauen, die laut aussprechen, dass sie ein Recht auf wechselnde Partner besitzen.
Mittelalter und Moderne zur gleichen Zeit im gleichen Staat findet Pasolini
vor; und doch ist das „Gastmahl der Liebe“ zunächst nicht mehr als ein
unprofessioneller Versuch einer Gesellschaftsstudie, wenn es denn überhaupt
eine sein soll. Der unwissenschaftlichen Methoden gibt es zu viele, um einerseits
eine annähernde Unverstelltheit der Befragten, andererseits eine annähernd
empirische Repräsentativität der Befragung zeitigen zu können:
Stets werden einzelne, offenbar willkürlich auf der Straße vorgefundene
oder sich erst während des Interviews bildende Gruppen befragt und es ist
ein offenes Geheimnis, dass zu einem Thema, über welches selbst heute noch
viele nur anonym halbwegs ehrlich Auskunft zu geben bereit wären, im Italien
der sechziger Jahre die meisten in der Öffentlichkeit wohl nur das äußern,
was vermeintlich von ihnen erwartet wird. Zu diesem Zwischenergebnis (und dieser
selbst formulierten Erkenntnis) aber kommt auch Pasolini, und smart fährt
er mit seinen Interviews fort, scherzend, improvisierend, eingedenk der Tatsache,
dass, wenn er nicht die Wahrheit über die Sexualität und Ehe in Italien,
so doch Wahrheiten über gesellschaftliche Rituale des Verschweigens sexueller
Tabuthemen erfahren könnte.
So bleibt das „Gastmahl der Liebe“ schließlich
ein Spiel der Widersprüche, ein mutiges Unterfangen, naiv begonnen, bewusst
naiv fortgesetzt, ein Scheitern und darin zugleich eine Erkenntnis, ein trial mit
error
und ein Schritt weiter, ein Film über den Italiener im Redefluss, über
das Theater des parlare und eine Ahnung von dem, was hinter dem
Auftritt liegen mag. Vor allem ist das „Gastmahl“ ein Film über den Humanisten
Pasolini selbst, dessen Bedürfnis spürbar ist, direkt mit den Leuten
auf der Straße zu sprechen, sie kennen zu lernen, der sein Italien liebt
und es doch kulturell verfallen sieht, über den schwulen Kommunisten und
Lehrer Pasolini, der, sobald sein Schwulsein öffentlich wurde, nicht nur
ein Berufsverbot kassierte sondern auch aus der KPI verbannt wurde, über
den Dichter und Regisseur, der beizeiten für sich erkannte, dass er sein
Schicksal nicht unabhängig vom Schicksal seiner Mitmenschen begreifen konnte.
Das „Gastmahl der Liebe“ ergänzt
die bei filmgalerie 451 erschienene deutsche DVD-Edition mit den Pasolini-Werken
„Accatone“, „Edipo Re“ und „Große Vögel, kleine Vögel“ um eine
weitere Chance, das selten bei uns gespielte, fassettenreiche Werk des für
den Film „Saló
oder Die 120 Tage von Sodom“
zum Skandal-Regisseur avancierten, 1975 ermordeten, Pier Paolo Pasolini wieder
neu - oder überhaupt - zu entdecken.
Andreas Thomas
Gastmahl
der Liebe
COMIZI
D'AMORE
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über Liebe
Italien
- 1963 - 90 min. – schwarzweiß – Dokumentarfilm - Verleih: Freunde der
Deutschen Kinemathek - Erstaufführung: 23.7.1982 - Produktionsfirma: Arco
Regie: Pier
Paolo Pasolini
Buch: Pier Paolo
Pasolini
Kamera: Mario
Bernardo, Tonino Delli Colli
Schnitt:
Nino Baragli
DVD:
ab 17. September 2007 bei Filmgalerie 451 [www.filmgalerie451.de]
Extras:
Trailer zu weiteren vier Pasolini-Filmen
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