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Das
geheime Leben der Worte
Die Kunst des Zuhörens
Das Ohr, schrieb der spanische Romancier Javier Marías
einmal, ist das empfindlichste Organ des Menschen. Man kann es nicht verschließen
wie Augen und Mund, völlig schutzlos ist es den Einflüsterungen der
Umwelt ausgesetzt. Es ist die letzte Schwachstelle, die uns mit den Mitmenschen
verbindet, ob wir wollen oder nicht.
Hanna jedoch, eine unscheinbare junge Frau mit osteuropäischem
Akzent, kann ihre Ohren tatsächlich verschließen. Sie hat ein Hörgerät,
das sie einfach abschaltet, wenn sie nichts mehr hören will - und das ist
oft. Völlig abgeschottet lebt sie ein asketisches Arbeiterleben in einem
indistinkten britischen Vorort, bis ihr Chef, von Hannas eintöniger Präzision
ein wenig beängstigt, sie schließlich geradezu anfleht, doch endlich
mal Urlaub zu nehmen, krankzufeiern, Spaß zu haben, irgendwas.
Spätestens diese herzerwärmend skurrile
Szene mit ihren vertauschten sozialen Erwartungen (der Vorgesetzte kramt am
Ende gar noch Reiseprospekte aus der Schublade, um seine schweigsame Angestellte
von der Schönheit der Welt zu überzeugen) wird den aufmerksamen Kinogänger
an jenen unbeholfenen Doktor aus "My Life without Me" erinnern, der
vor knapp drei Jahren einer sehr ähnlichen jungen Frau eröffnete,
daß sie todkrank wäre, und der dabei stammelte und weinte und schließlich
von der Todgeweihten selbst getröstet werden mußte. Wer damals dieses
kleine Juwel im Kino bestaunen durfte, wird wohl ohnehin nicht zögern,
sich den neuen Film von Isabel Coixet anzusehen, allen anderen sei er ebenfalls
empfohlen - an dieser Frau wird das europäische Kino noch viel Freude haben.
Mit den gleichen Produzenten, demselben Kameramann
und einer erneut herausragenden Sarah Polley in der Hauptrolle gelingt Coixet
noch eine Steigerung zu ihrem praktisch lupenreinen Vorgängerfilm. Erneut
fokussieren sie und Polley eine bedingungslos subjektive Perspektive auf die
Protagonistin: Die Kamera liebt Hannas Einsiedlerdasein genauso wie sie selbst,
in fließenden Bahnen umrundet sie den kleinen Kosmos der Frau; in schmerzhaften
Episoden dagegen schwankt der Blick mit der Protagonistin und schlägt ebenso
wie sie aus. Bei den ersten kulinarischen Experimenten seit Jahren kommt es
gar zu einem vorsichtigen "Vertigo"-Effekt. Und als es die junge Frau
schließlich auf eine Bohrinsel verschlägt, wo sie den charmanten
und redseligen Träumer Josef nach einem Unfall pflegen soll, teilen auch
hier Kamera und Ton Hannas stillen Enthusiasmus für die unerwartete Schönheit
dieses kollektiven Refugiums der Einsamen. Das emotionale Investment in die
Figur ist so subtil und technisch so raffiniert, daß man sich schon bald
in der wundersamen Welt und Weltsicht der Heldin wiederzufinden glaubt.
Doch es gibt riesige Geheimnisse, die diese wortkarge
Frau umgeben. Ohne Vorwarnung behauptet sie plötzlich, ausgebildete Krankenschwester
zu sein, und der Zuschauer muß mitraten, ob es sich um eine besonders
impulsive Lüge oder ein unbekanntes biographisches Detail handelt. Über
eine Stunde lang sucht man nach Anhaltspunkten für solche Fragen im Gesicht
von Sarah Polley, die alle Identifikation auf sich zieht, aber bis kurz vor
Schluß kein Geheimnis preisgibt. So wird das Publikum erneut, wie schon
bei "My Life without Me", in das Porträt einer schweigsamen jungen
Frau gezogen, die mit solchem Stoizismus und Gleichmut durch die Welt läuft
und deren einsilbige Antworten so abgeklärt und weise wirken, als hätte
sie alles schon gesehen. Nur weitet sich in diesem neuen Film der Sog in einen
Malstrom aus, der den faszinierten Zuschauer schließlich, in einem wahrlich
erschütternden Höhepunkt, vernichtet, ertränkt und zu feinem
Staub zerreibt. Denn Hanna hat tatsächlich alles schon gesehen.
Der Film schleicht sich als liebenswertes und einfühlsames,
aber immer auch leichtfüßiges und amüsantes Drama in das Herz
des Zuschauers und läßt dann mit simplen Sätzen wie "Haben
Sie in den letzten zehn Jahren keine Nachrichten gesehen?" ganze Weltbilder
einstürzen. Weit davon entfernt, ein dröger Problemfilm zu werden,
entläßt er den Zuschauer doch zutiefst beeindruckt und berührt
aus dem Kino. Der Film ist erschütternd, aber nie sensationalistisch, behutsam,
aber nie langatmig, und tief traurig, aber nie weinerlich. Ein wichtiges, großes
und nicht zuletzt bildschönes Werk - alles, was man vom europäischen
Kino erwarten kann, und dann noch mehr.
Daniel Bickermann
Dieser Text ist zuerst erschienen
im:
Das
geheime Leben der Worte
The Secret Life of Words. E 2005. R,B: Isabel Coixet. K: Jean-Claude Larrieu. S: Irene Blecua. P: El Deseo,
Hotshot. D: Sarah Polley, Tim Robbins, Javier Cámara, Eddie Marsan, Julie
Christie u.a. 112 Min. Tobis ab 27.4.06
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