Geheimsache
Inhalt
Sylvie und ihr Bruder Paul glauben fünf Jahre nach dem plötzlichen Tod
des Vaters an Mord. Für den Mörder halten sie seinen früheren
Geschäftspartner Walser. Nachdem Paul durch einen Unfall ausfällt, will
Sylvie allein den Racheengel mimen. Doch sie erschießt aus Versehen
Walsers Geliebte. Sylvie und Walser werden zu Komplizen.
Kritik
Sylvie Roussel wacht mitten in der Nacht auf, geht in die Küche,
betätigt den hypermodernen Wasserhahn, will ein Glas Wasser trinken,
fühlt mit dem Finger die Temperatur, schüttet das halbvolle Glas zurück
und wartet, bis das Wasser kalt ist. Sylvie Roussel ist Elektra, die den
Mord an ihrem Vater Agamemnon rächen will, gemeinsam mit ihrem Bruder
Paul/Orest und immer tiefer in eine verwickelte Geschichte um Tod und
Unglück, Liebe, Vertrauen und Rache hineingerät. Es ist, nur um ein
Weniges variiert, die Geschichte der Orestie.
Das Wunder der Filme Rivettes ist immer dasselbe. Er erzählt von jungen
Menschen (allermeist Frauen) im heutigen Frankreich und es gelingen ihm
dabei genaueste Beobachtungen im Detail des Alltags, der
zwischenmenschlichen Beziehungen, wie das allerschönste Tradition des
französischen Kinos ist, die in den wunderbaren Filmen von Noémie Lvovsky
oder Erick Zonca oder Yolande Zauberman fortlebt. Zugleich aber sind
seine Figuren und ihre Schicksale nicht von dieser Welt. Stets gibt es
eine zweite Ebene, mitten im heutigsten Alltag, die alle
Selbstverständlichkeiten aufbricht und verrätselt. Der Bezugsrahmen der
Geschehnisse, deren Zeuge der Zuschauer wird, ist nie ein irgendwie
gearteter Realismus und Mimetismus (was übrigens auch, aber anders, für
die Filme Rohmers gilt) - genausowenig aber ließen sie sich jemals
schlüssig enträtseln, etwa auf Parabolik oder Allegorik hin. Es gibt die
Suggestion einer höheren Bedeutung, die sich der Auflösung aber
beharrlich entzieht. Bisher waren es meist nicht genauer zu klärende
Verschwörungen oder Botschaften, die auf einen geheimen Zusammenhang der
Dinge hinwiesen (man denke an 'Die Geschichte der Dreizehn' im grandiosen
Out 1- Noli me tangere). Solche Verweisungsstruktur pure, einen solchen
zu höchster Abstraktheit im konkretest Dinglichen getriebenen McGuffin
gibt diesmal eben die Orestie. Und doch sind diese Hintergründe nicht
einfach Zitat, wie es postmodern üblich ist, oder Strukturgeber, der
gerade in der Ambivalenz von Kontrast und Bezüglichkeit zum Alltag
(Joyces Ulysses) wirkt. Ihr Effekt ist Verzauberung. Eine Verzauberung,
die nichts verspricht und doch den Dingen, den Personen, den Dialogen,
den Ereignissen eine Dimension verleiht, die nun schlicht und einfach
mythisch zu nennen wiederum vereinfachend wäre.
Und doch gibt es eine Verbindung zum Mythos. Diesmal, mit der Orestie so
offensichtlich im Hintergrund, ist das gar nicht zu übersehen. Rivette
plündert diese Mythen aber nicht, zapft nicht die bedeutungsverleihende
Kraft an, die sie heute noch besitzen mögen. Viele Hollywoodfilme (wie,
im guten, die Truman Show oder, im bösen, Titanic, den Rivette mit guten
Gründen haßt und verachtet) tun das. Rivette hingegen leert den Mythos,
nimmt ihm alle Bedeutsamkeit und füllt ihn, Detail um Detail, Dialog um
Dialog, Zug um Zug, rätselhafte Referenz um rätselhafte Referenz neu auf,
ohne doch seine alte Art höheren Sinns wieder aufzurichten. Es gibt dafür
keinen anderen Begriff, so wenig man ihn noch hören mag, als den der
Dekonstruktion. Der größte Reiz und das unübertroffene Abenteuer der
Filme Rivettes ist es, dieser Mythendekonstruktion, die sich als ernste
und gar nicht postmodern ironische, zugleich als ungeheuer spannende, ja
atemberaubende, so zerebrale wie sinnliche Angelegenheit entpuppt,
offenen Auges, offenen Verstandes und offenen Herzens beiwohnen zu
können.
Und von Sandrine Bonnaire habe ich jetzt gar nicht gesprochen. Es bliebe
auch vergeblich. Man muß sie gesehen haben.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen in:
Geheimsache
Frankreich 1998
Regie: Jacques Rivette
Mit Sandrine Bonnaire