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Gente del Po
Michelangelo Antonionis erster
Film ist ein kurzer Dokumentarfilm. Im ersten Bild schwenkt die Kamera von der
groben Backsteinmauer einer kleinen Mühle auf einen Pferdewagen und Männer,
die über eine Schütte heruntergelassene Säcke aufstapeln, und
weiter hinunter zu einigen am Ufer ankernen Schleppern. Das letzte Bild zeigt
weite, wirbelnde Wasserflächen unter sich türmenden Wolken: ein heraufziehendes
Unwetter im Po-Delta, der Fluß - wie ohne Ufer - und die stetige, rhythmische
Gegenbewegung der Meeresströmung in der Adria-Mündung.
Antonioni beschreibt die Flußlandschaft
und ihre Menschen in einer organischen Beziehung. Sein Film hat die erzählende
Form einer Schlepperfahrt, die im Vorüberziehen kurze, prägnante Episoden
von Austausch und Transport, von Landarbeit und Alltagssituationen miteinander
verbindet.
Der Fluß beherrscht alles.
Bei Szenen am Ufer bleibt er sichtbar als breites Band hinter den Dämmen,
auf denen Frauen Gras mähen und die Schiffe grüßen, ein Fohlen
weidet, Kinder ans Ufer laufen, ein junges Paar sich trifft. Männer laufen
zu Anfang auf ein Dampfsignal hin zum Wasser, um eine Holzbrücke zu öffnen.
Vom Schiff aus sieht man, wie Frauen am Ufer waschen. Die Frau des Schiffers
kocht auf offener Feuerstelle unter Deck. Die Tochter liegt krank in der verwitterten
Kabine. Alle Handgriffe zum Landgang werden gezeigt. Die Schifferfrau geht in
ein wie verschlafen daliegendes Dorf und ehe sie in die Apotheke tritt, zeigt
die Kamera auf der leeren Piazza einen einbeinigen Invaliden und mit kleinem
Schwenk einen alten Mann, der mühevoll ein Fundstück vom Boden aufliest.
Genauso präzise und geduldig: die Aktionen zur Rückkehr aufs Schiff,
in deren Gleichmaß eine wie betäubte Unruhe um das kranke Kind aufgehoben
ist. Danach Segelreparieren, Wäsche stopfen, dem Kind vorlesen.
Von der Unberechenbarkeit des
Stroms wird in rascher Schnittfolge aus der Sicht der Menschen erzählt,
von ihren Vorsichtsmaßnahmen. Boote werden vertäut, Donner grollt,
barfüßige, ärmlich gekleidete Frauen holen ihre Kinder ins Haus.
Antonioni drehte für GENTE
DEL PO innerhalb eines Monats etwa 600 oder 700 m Material in der Umgebung seiner
Heimatstadt Ferrara. Als er im Sommer 1943 mit dem Schnitt beginnen wollte,
hatten sich die Kriegsereignisse so weit eskaliert, daß das Institut Luce
das Material in den Norden transportieren und in Venedig lagern ließ,
während sich Antonioni entschloß, in Rom zu bleiben [Im Juli 1943 landeten die Alliierten in Sizilien, wurde Mussolini
vom Faschistischen Großrat und König Vittorio Emanuele III. gestürzt
und Marschall Badoglio zu seinem Nachfolger bestimmt. Im Gegenzug zu den einsetzenden
Waffenstillstandsverhandlungen des neuen Regimes mit den Alliierten besetzten
die Deutschen Rom und terrorisierten brutal die (bloß mit Rücksicht
auf den Vatikan) >offen< genannte Stadt. Im September befreiten sie Mussolini
in Norditalien aus der Gefangenschaft und ließen ihn die Republik von
Salò ausrufen. Antonionis Abneigung gegen den Faschismus veranlaßte
ihn, in Rom zu bleiben und sich Untergrundaktionen der Nationalen Befreiungsfront
anzuschließen].
Die Filmproduktion stand zunächst still und er lebte von literarischen
Übersetzungen, später vom Verkauf seiner Tennispokale, und schrieb
gelegentlich Filmkritiken.
Als er sich nach der Befreiung
1944 auf die Suche nach seinem Film machte, mußte er feststellen, daß
ein Teil des Materials der Feuchtigkeit zum Opfer gefallen war, ein anderer
bei der Entwicklung zerstört worden war. 1947 schließlich stellte
er den Film in der überlieferten Fassung fertig; sie umfaßt etwa
die Hälfte der vorgesehenen.
In Äußerungen bis Anfang
der 60er Jahre, als Antonioni selbst noch an einer differenzierenden Zuordnung
seiner frühen Filme zum Neorealismus interessiert war, erklärt er
die katastrophalen Produktionsbedingungen als Boykott gegen einen Film, der
weder die Stromlandschaft mythisiert, noch die Menschen dort zu faschistischen
Idealtypen stilisiert habe. [Hinweis darauf u.a. in Biofilmographie de M.A., Cahiers du Cinema,
Nr. 112, Okt.]
Pierre Leprohon notiert den Verlust einer ganzen Passage über ein Delta-Dorf,
in der Antonioni seine Anteilnahme an den elenden Lebensbedingungen eindringlich
dokumentiert habe. [Pierre Leprohon, M. A., Der Regisseur und seine Filme, Frankfurt
1964, S.19]
Antonioni: »Bis dahin hatten
sich Dokumentarfilm-Regisseure in meinem Land auf Schauplätze, Objekte,
Kunstwerke konzentriert. Aber mein Film handelte von Schiffern, Fischern und
Alltagsleben ... von Menschen.« [Michele Manceaux, An Interview
with Antonioni, Sight and Sound, Nr. 1, Winter 1960/61]
»Ich muß etwas sagen,
auf die Gefahr hin, eingebildet zu erscheinen; während ich meinen ersten
Dokumentarfilm drehte, Ende 42, drehte Visconti Ossessione (in der gleichen Gegend, C.L.). GENTE DEL PO war ein Dokumentarfilm
über die Schiffahrt und Fischer: die Menschen, d.h. nicht die Dinge oder
die Orte. Ich war, ohne es zu wissen, auf dem selben Weg wie Visconti;
ich erinnere mich sehr gut daran, wie leid es mir tat, dem Material keine erzählende
Entwicklung geben oder daraus einen Film mit Handlungsfaden machen zu können.
Heute würde ich vieleicht auch zitiert, wenn man von der Geburt des Neorealismus
spricht. Mir erscheint es genauer, statt von einem dokumentarischen Einfluß
in meinen Filmen, von einer erzählenden Tendenz in meinen Dokumentarfilmen
zu sprechen.« [Questions á A., Positif, Nr. 30, Juli 1959]
Weniger generalisierend als in
diesen retrospektiven Bemerkungen, sondern erzählend anschaulich auf Kinematographisches
verweisend, ist Antonionis 1939 in Cinema veröffentlichter Text Für einen Film über
den Fluß Po [Cinema, 25. April 1939, nachgedruckt in Positif, Nr.263, Januar
1983]. Solche hypothetischen, literarischen Entwürfe für erst
viel später verwirklichte Filmprojekte sind eine charakteristische Besonderheit
seiner Arbeit und deuten auf sein sensibles Instrumentarium hin, mit dem er
Parallelen und Differenzen zwischen Sprache und Bildsprache unterscheidet. Noch
im Stil der damals offiziösen, pathetischen Wir-Rhetorik versucht er in
diesem frühen Text, seine bildkräftige Faszination für die Po-Landschaft
mitzuteilen als etwas, das sich dennoch pathetischer Affirmation entziehe, obwohl
»Liebe zu einem Despoten« die Grundstimmung der Leute zu ihrem Strom
bestimme. Der Text verknüpft in der Beschreibung subtil atmosphärische
Dichte (»amnesisch und statisch«, »Ruhe und Langsamkeit«)
mit detailfreudiger Signifikanz von Alltagsgegenständen, eine melancholisch-leidbewußte
Naturbetrachtung, ein Gefühl für visuelle Attraktionen (»Grundthema:
Ebene«) und einen scharfen Blick für die brutalen Verschiebungen
zwischen traditionell agrarisch-handwerklicher Wirtschaft/Lebenskultur und moderner
Industrie und Transportmitteln. Sein Interesse gilt einem »Ensemble moralisch-psychologischer
Elemente«.
Der kurze Text entfaltet, was
Antonioni mit dem Material zu GENTE DEL PO hätte zeigen können. Die
Kurzfassung erscheint wie ein bereits komplexes Element davon. Sein knapper
Kommentar, die sparsame Einblendung von Real-Geräuschen und behutsam-stiller
Harmonika-Musik halten einen einfühlenden Ton, setzen sich nicht bloß
berichtend, dekorativ folkloristisch oder überhöhend vom Dargestellten
ab. Die gezeigten Situationen kaschieren nicht seine überlegte Inszenierung
des Vorgefundenen. Zu seiner Idee von den epischen Qualitäten der Po-Landschaft
kehrt Antonioni einige Jahre später im Sujet von IL GRIDO zurück.
Claudia Lenssen
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: Michelangelo Antonioni; Band 31 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek
von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien
1987.
Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung der Autorin Claudia Lenssen und des Carl Hanser Verlags.
GENTE
DEL PO
Regie und Drehbuch: Michelangelo Antonioni. - Kamera: Piero Portalupi.
- Schnitt: C.A.Chiesa.
- Musik: Mario Labroca. - Produktion:
Artisti associati per la
I.C.E.T. (Industrie Cinematografiche
e Teatrali), Mailand. – Format: 35 mm, sw. - OL: 11 min. - Verleih: in der BRD nicht verliehen.
Der Film wurde durch falsche Lagerung in den letzten
Kriegsjahren zum Teil zerstört. 1947 entstand die letzte Schnittfassung
aus etwa der Hälfte des ursprünglichen Materials.
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