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Geraubte
Küsse
Auf dem Weg ...
Man erinnere sich, wie Antoine Doinel (Jean-Pierre
Léaud) als Jugendlicher, ungeliebt von Mutter und Stiefvater, abgeschoben
in eine Erziehungsanstalt, von dort geflüchtet war ("Sie
küssten und sie schlugen ihn",
1959). Truffaut ließ Antoine in der letzten Einstellung des Films in die
Kamera blicken und hielt dieses Bild von Antoine fest - ein Bild, das danach
zu fragen schien, welche Art von Freiheit, von Zukunft ihn wohl erwarten würde,
einen Jungen, der schon in seiner Kindheit mehr über dem Boden schwebte,
als in irgendeiner Weise Halt hatte. Neun Jahre später griff Truffaut die
Figur des Antoine Doinel wieder auf, wiederum mit Jean-Pierre Léaud in
der Hauptrolle.
Inzwischen ist Antoine beim Militär. Aber wie
man sich denken kann, ist die Armee eine noch viel schlimmere Erfahrung für
Antoine als die Erziehungsanstalt. Immer wieder sitzt er im "Bau",
und schließlich wird seiner Bitte, ihn aus der von ihm selbst eingegangenen
dreijährigen Verpflichtung zum Militär zu lösen, entsprochen.
Einen, der die Vaterlandspflicht so wenig ernst nimmt, will man nicht länger
dulden.
Antoine schwebt durch Paris, läuft durch die
Straßen, verbringt eine Stunde im Bordell, inspiziert sein altes Zimmer,
besucht die Eltern seiner Freundin, die Darbons (Daniel Ceccaldi, Claire Duhamel).
Doch Christine Darbon (Claude Jade) ist auf Reisen, sagen die Eltern. Monsieur
Darbon besorgt Antoine einen Job als Nachtportier im Hotel Alsina.
Und sehr schnell stellen wir fest, dass Antoine sich
vollends zum Außenseiter entwickelt hat, zu einem jungen Mann, der alles
andere als ein Revolutionär oder Rebell ist, keineswegs das, sondern zu
einem flüchtigen Menschen, einem, der ständig auf der Flucht zu sein
scheint, nicht vor irgend jemandem, nicht vor einem konkreten Etwas, nicht einmal
so sehr vor dem Erwachsenwerden, ja nicht einmal vor sich selbst. Die Figur
des Antoine, die hier in einer Art Komödie gezeigt wird, ist schwer zu
fassen, weil Antoine schwer einzuordnen ist und auch gar nicht eingeordnet werden
will. Antoine ist der personifizierte Schwebezustand, einer, der sich nicht
unterkriegen lässt, auch nicht, als er nach kurzer Zeit seinen Job als
Nachtportier wieder verliert, weil er - zum Ärger des Hotelbesitzers -
einem Detektiv und dessen Kunden ein Zimmer geöffnet hat, in dem die Frau
des Kunden mit einem Liebhaber im Bett liegt. Für Antoine geht das Leben
weiter; er lässt es auf sich zukommen, wird Detektiv, weil der Detektiv,
Monsieur Henri (Harry-Max), teils wohl aus Mitleid, teils weil er ein schlechtes
Gewissen hat, ihn mit in die Detektei nimmt und der Besitzer, Monsieur Blady
(André Falcon), ihn einstellt.
Antoine nimmt den Job an, obwohl er keine Ahnung
davon hat und sich auch bei seinem ersten Auftrag, der Observation einer Frau,
ungeschickt anstellt und entdeckt wird. Antoine trifft sich mit Christine, aber
auch hier, in beider Beziehung, herrscht diese permanente Flüchtigkeit,
diese fast schon an Gleichgültigkeit grenzende Beliebigkeit, dieser spielerisch-kindliche
Individualismus, der sich nicht festlegen will, in keiner Weise und in keinem
Punkt des Lebens. Antoine hat keine Pläne und scheint keine Vergangenheit
zu haben; er schöpft jedenfalls scheinbar nicht aus irgendeinem Fundus
an Erfahrungen aus seinem bisherigen Leben. Er schwimmt durch den Strom der
Großstadt, erfüllt seine Aufträge, einen Zauberkünstler
zu finden zum Beispiel.
"Baisers volés", 1968 gedreht, ist
ein Film seiner Zeit. Aber es wäre verkehrt, Truffaut habe sich hier einem
zeitgenössischen Trend anschließen wollen, einer Mode oder gar einer
zur Ideologie geronnenen Zeitströmung, etwa im Kontext der damaligen Studentenbewegung
oder dem Trend in großen Teilen der damaligen Mittelschichten "Links-Sein-Ist-Schick-Sein".
Antoine Doinel ist ein absolut unpolitischer Mensch, der sich keinem Trend verschreibt,
dessen Mentalität aber dennoch einer beginnenden "Tendenz" zuzuordnen
ist - eben jener Anfangsphase eines manchmal ungestümen, aber noch nicht
richtig fassbaren Individualismus.
Als bei Monsieur Blady der Schuhgeschäftbesitzer
Tabard (Michael Lonsdale) auftaucht, erhält Antoine einen neuen Auftrag.
Tabard kommt nicht mit einem gewöhnlichen Auftrag. Er will wissen, warum
ihn keiner mag, warum ihn alle verachten, seine Frau, die Concierge in seinem
Haus und die Verkäuferinnen in seinem Geschäft. Antoine wird als Verkäufer
eingestellt, um dieser Frage auf den Grund zu gehen - und so lernt er die elegante,
schöne Frau Tabards, Fabienne (Delphine Seyrig), kennen, in die er sich
verliebt. Das Flüchtige erhält einen neuen Schub in Antoines Leben.
Truffaut verknüpft die leichten, romantischen Momente in diesen Szenen
mit exzellentem Humor, etwa wenn Antoine bei Fabienne Kaffee trinkt, furchtbar
nervös auf eine Frage Fabiennes antwortet: "Ja, Monsieur" und
ob dieser Peinlichkeit und Unsicherheit gegenüber der eleganten Fabienne
die Flucht ergreift, bei Fabienne allerdings dadurch Sympathie erheischt und
als ihr Spielzeug eine Liebesstunde mit ihr verbringen darf, was ihm wiederum
- weil Fabienne von der Detektei beobachtet wird - den Job kostet.
Alles scheint aus den Fugen geraten. Antoine tröstet
sich bei einer Prostituierten, während Christine, die er - angesichts seiner
Bewunderung für Fabienne - kurz zuvor verstoßen hatte, ihn sucht,
der inzwischen als Fernsehtechniker einen neuen Job gefunden hat.
Truffaut, kann man sagen, arbeitet an diesem Flüchtigen,
schwer Fassbaren, diesem Lebensgefühl, das sich nicht verorten kann, in
einer Mischung aus Sympathie, kritischer Distanz, die sich vor allem durch Komik
manifestiert, und der analytischen Absicht, die gesellschaftlichen Veränderungen
jener Jahre - auch im Rückbezug auf sich selbst - aufzuspüren. Das
Individuum gerät "plötzlich" ins Zentrum des sozialen Geschehens,
und es ist ein Merkmal der nouvelle vague und insbesondere der Filme Truffauts,
dieses neue Lebensgefühl greifbar zu machen, obwohl seine Figur, sein alter
ego, Antoine Doinel doch noch so unfassbar erscheint.
Es ist oft geschrieben worden, die Figur des Antoine
zeichne sich dadurch aus, nicht erwachsen werden zu können respektive zu
wollen. Man macht das an all dem fest, was auch ich hier über Antoine geschrieben
habe. Doch ich sehe in Antoine Doinel eher eine Art, teilweise noch vage Symbolfigur
jenes beginnenden Individualismus, der heute in mancherlei Hinsicht - in sein
Gegenteil verkehrt - zu einer Art egozentrischen Ideologie verkommen zu sein
scheint, nicht allerorten, aber doch weit verbreitet. "Baisers volés"
artikuliert jenes Gefühl einer Befreiung aus allenthalben verkrusteten
sozialen Strukturen, einer festgefahrenen Familienideologie und -praxis ebenso
wie voraussehbaren Biografien, ohne schon "sagen" oder "zeigen"
zu können, wohin der Weg geht. Gerade dies, dieses Unbestimmte und Flüchtige,
zeichnet die Qualität des Films aus. (1)
Besonders prägnant in dieser Hinsicht ist die
Schlussszene des Films. Christine und Antoine sitzen auf einer Parkbank, und
sie zeigt ihm einen Mann, der sie seit Wochen verfolgt und beobachtet. Dieser
Mann kommt auf die beiden zu und beginnt zu erzählen, er habe Christine
beobachtet und er liebe sie, sie sei die einzige, die er liebe, eine wahre Liebe,
und sie brauche nicht gleich Ja zu sagen usw. Er geht wieder, und Christine
und Antoine gehen weiter mit der Bemerkung, der Mann müsse wohl nicht ganz
normal sein. Antoine will Christine heiraten. In dieser Szene steckt die ganze
"Verrücktheit" der Figur des Antoine Doinel. Denn im Grunde kennt
er Christine genauso wenig wie der Fremde.
Gerade diese Schlussszene verdeutlicht dann eben
auch die kritische Sicht Truffauts auf einen noch "unausgegorenen"
Individualismus, dessen mögliche positive wie riskante Entwicklungsmöglichkeiten
im Hinblick auf eine sich potentiell breit machende Beliebigkeit in der Entwicklung
menschlicher Beziehungen. Man kann dies natürlich auch als Defizit in der
Entwicklung zum Erwachsenwerden verstehen, würde aber damit meiner Ansicht
nach zu kurz greifen, da es hier eben auch um eine gesellschaftliche Tendenz
geht. Und es geht - in einem ganz fundamentalen Sinne - eben auch um eine Reorganisation
des "Konzepts Freiheit" und seiner Bedingungen unter veränderten
gesellschaftlichen Voraussetzungen.
DVD
Bild: 1,78:1 (16:9
anamorph)
Ton: Deutsch (Dolby
Digital 1.0), Französisch (Dolby Digital 1.0)
Untertitel: deutsch
Wie "Sie küssten
und sie schlugen ihn" ist "Geraubte Küsse" in der Truffaut
Collection 2 in digital restaurierter Fassung mit hervorragender Bild- und Tonqualität
zu finden. Die DVD enthält eine Einführung durch den Truffaut-Biografen
Serge Toubiana sowie einen Audiokommentar von Hauptdarstellerin Claude Jade
und Drehbuchautor Claude de Givray. Interessant sind weiterhin Truffauts eigene
Ausführungen zum Antoine-Doinel-Zyklus. Weitere Featurettes auf der DVD:
> Die Langlois-Affäre.
Dokumentation um den Versuch des damaligen frz. Kulturministers Malraux, den
eigenwilligen Leiter der Cinémathèque française, des bedeutenden
französischen Filminstituts, Henri Langlois, zu entlassen. Dies scheiterte
damals u.a. am Widerstand bedeutender Vertreter der nouvelle vague wie Godard
und Truffaut. Am Anfang von Truffauts "Geraubte Küsse" zeigt
er übrigens das zeitweilig geschlossene Institut.
> Diskussionen
in Cannes 1968 und Unterstützungsspot für Langlois von Truffaut und
Godard
> Kurzfilm "Antoine
& Colette"
Insgesamt wieder
einmal eine gelungene DVD-Edition.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist
zuerst erschienen bei:
Zu diesem Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Texte
(1) Dass hinter
der oftmals ausschließlich als Ausdruck des "freien Willens"
proklamierten Tendenz zum Individualismus sozusagen "knallharte" ökonomische
Veränderungen standen und stehen, wollen viele Ideologen des gegenwärtigen
egozentrischen Individualismus nicht wahr haben. Dabei deuten Theorie und Praxis
der sog. Globalisierung schon selbst auf eine im Sinne der Vertreter des Wirtschaftssystems
erforderliche Auflösung veralteter Strukturen, insbesondere der klassischen
Kernfamilie und der religiösen Einbindung. Die freie Verfügbarkeit
der Arbeitskraft - ein von Anfang an zentrales Merkmal kapitalistischen Wirtschaftens
- hat in den vergangenen Jahrzehnten neue Dimensionen erreicht. Der "Einzelne"
im Sinne eines frei Verfügbaren, eines in jeder Hinsicht Flexiblen, ist
der "neue Mensch" dieser Stufe des Kapitalismus. Familiäre oder
sonstige Schranken der personellen Bindung wirken hier störend. Dass dieser
Prozess allerdings widersprüchlich ist, dürfte keinem Zweifel unterliegen.
Geraubte
Küsse
(Baisers
volés)
Frankreich
1968, 90 Minuten (DVD: 87 Minuten)
Regie:
François Truffaut
Drehbuch:
François Truffaut, Claude de Givray, Bernard Revon
Musik:
Antoine Duhamel
Kamera:
Denys Clerval
Schnitt:
Agnés Guillemot
Darsteller:
Jean-Pierre Léaud (Antoine Doinel), Delphine Seyrig (Fabienne Tabard),
Claude Jade (Christine Darbon), Michael Lonsdale (Georges Tabard), Harry-Max
(Monsieur Henri), André Falcon (Monsieur Blady), Daniel Ceccaldi (Monsieur
Darbon), Claire Duhamel (Madame Darbon), Catherine Lutz (Catherine), Martine
Ferrière (Gérante), Jacques Rispal (Monsieur Colin), Serge Rousseau
(Der Unbekannte), Paul Pavel (Julien)
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