zur startseite
zum archiv
Gerry
Die Steadycam und Arvo Pärt als Agenten der
Entwirklichung. Die Fahrt hinein in die Wüste, minutenlang. Wie dem Bild
der Bewegung sein Geräusch geraubt und in diesem Raum etwas hinzugefügt
wird. Eine Ersetzung. Der Dialog, gleichfalls jenseits allen Realismus, aber
der Effekt ist ein anderer. Entleerung eher, ein Kreisen, in dem sich der Kontakt
verliert zu allen Gegenständen dieser Welt. Das "thing", von
dem die Rede ist und dieses "thing" referiert kaum mehr. Wie das Vokabular
gerrysiert wird, die Irre des Wortes korrespondiert – aber seltsam verdreht,
nicht einfach, nicht unmittelbar – der Irre des eingeschlagenen Wegs. Hier und
da ein Fels in dieser Zone des Unbestimmten, an dem man hängenbleibt, an
dem ein Kampf stattfindet, dann aber geht es weiter, mit der Steadycam und Arvo
Pärt, minutenlang, das Gehen und Gehen. Die Kamera ganz nah, an den Gesichtern,
unbewegt, steady, nebenherschreitend, dann der Umschnitt auf die Totale aus
der Ferne, die Figuren, die sich in der Landschaft verlieren. Später wieder,
viele Minuten, das Schleppen über den weißen Grund, das Verenden.
"I'm leaving". Gerry, der Gerry ermordet. Wieviele Gerrys? Einer nur?
Der Himmel, die Wolken, die die Kamera beobachtet
als Schönheiten. Überhaupt die Schönheit des Films. In welches
Verhältnis setzt sie der Film zu Leid und Tod? Woran halten, wenn man Bedeutung
sucht? Sind nicht alle Flächen zu glatt: Die minimal Ton-Scape von Arvo
Pärt ebenso wie die Wolken im Zeitraffer? Etüden des Ungreifbaren
ebenso wie des Unbegrifflichen. Entleerung, Entwirklichung und im Gegenzug wieder
Aufladung. Aber weder mit Physik (Stofflichkeit, Materialität) noch mit
Metaphysik (Sinn, Tiefe), sondern mit einer Hochglanzoberfläche, die attraktiv
ist und zugleich abweisend.
Man möchte seinen Verstand und seine Sinne an
diese Oberfläche legen und gewiss wäre diese Oberfläche in der
Hitze und Sonne des Death Valley angenehm kühl. Man dreht den Kopf zur
Seite, legt die Backe an diese kühle, glatte Oberfläche und der Blick
geht geradeaus ins Leere. Mit Mühe nur sind, verdreht man die Augen in
dieser Haltung, zwei Gerrys zu ahnen, die schlafwandelnd, todwandelnd, filmwandelnd
durch eine Zone sich bewegen, lange Minuten. Man stellt sich diese Oberfläche
als kühl vor, obwohl sie illuminiert ist wie die zu leeren Geheimnissen
erstarrten Fotografien Jeff Walls.
Vielleicht ist "Gerry" ein Film von Jeff
Wall. Und verweigert sich, in seinem nach Außen gekehrten Innersten, der
Leinwand. Ein Realismus, der in sein Gegenteil umschlägt. Entwirklichung,
Entstofflichung, Entleerung. Zugleich aber keine Frage von Resten. Ein Umschlag
in etwas anderes, dem Kino Fremdes, der Auftritt von Gespenstern, die künstlicher
und wirklicher sind als alle material ghosts des Films.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen
in:
Zu diesem Film gibt’s im archiv mehrere Texte
Gerry
(USA
2002)
Regie: Gus Van Sant
Darsteller: Casey Affleck, Matt Damon
Drehbuch: Casey Affleck, Matt Damon, Gus Van Sant
Kamera: Harris Savides
Produzent: Dany Wolf
zur startseite
zum archiv