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Die
Geschichte von Marie und Julien
Die
Wirklichkeit des Films sind die möglichen Bilder, nichts anderes. Der special
effect
der Abbildungsillusion ist das selbstverständliche Auftreten von Geistern
und Phantomen. Realismus ist die Unterstellung von Normalontologie, aber es
geht auch anders. The
Owls, heißt es in Twin
Peaks,
are not what they seem. Bei
Rivette - aber natürlich auch bei Lynch - waren es nie nur die Eulen, bei
Rivette siedelte immer schon in den Bildern, die wir kennen, eine mögliche
andere Wirklichkeit, die mit dem Wiedererkannten spielt oder gar, wie in Céline
und Julie fahren Boot,
Schabernack treibt. Die
Geschichte von Marie und Julien,
ursprünglich ein Rivette-Projekt der 70er Jahre, schließt an diesen,
seinen größten Film an und an die Götter- und Verschwörungssagen,
die ihm folgten.
Anders,
dies nur als kleiner historischer Exkurs, ging es von Beginn an. Neben den Lumières,
die den Film als Dokumentation wirklicher Wirklichkeit erfanden (naja: nicht
ganz, denn die Mauer, deren Abbruch sie filmten, ließen sie, im Rückwärtslauf
der Kamera, auch wieder auferstehen. Geisterhand als reine Projektionstechnik),
stehen von den ersten Nachfolgern an, in England George Albert Smith, in Frankreich
George Meliès, Überblendungen und Tricks aller Art für Geistererscheinungen
und halluzinierte Wirklichkeiten bereit. Der Mainstream der französischen
Theorie allerdings, von André Bazin bis hin noch zu Serge Daney, konnte
für die anderen Wirklichkeiten, die selbstverständlichen Geister des
Kinos wenig Enthusiasmus aufbringen. Die als Abbildungsfanatiker verstandenen
Lumières blieben die Helden - und nicht zuletzt deshalb, Ende des kleinen
Exkurses, ist Jacques Rivette bis heute nicht als die singuläre Gestalt
des französischen Kinos begriffen, die er unter Godard, Rohmer, Pialat,
Resnais, Marker (am ehesten ist letzterer noch seinesgleichen) wahrhaftig ist.
Zurück zum Film.
Sehr
folgerichtig beginnt alles mit einem Traum. Nein, so kann man das nicht sagen,
denn wer weiß, was hier Traum ist und was Wirklichkeit. Nein, so kann
man das auch nicht sagen, denn wer weiß, ob dieser von filmischen Konventionen
mit Blenden und Augenwischereien (perverse Ontologie des Films: die Unterscheidung
ist Augenwischerei, nicht die Kontinuität) behauptete Unterschied, Traum
hier, Wirklichkeit da, überhaupt haltbar ist. Alles beginnt im Dunkeln,
Stimmen, Geräusche, der Vorspann. Wenn es Licht wird auf der Leinwand,
ist das Bild schon in Bewegung. Eine Kamerafahrt, die nichts Bestimmtes in den
Blick nimmt, wie es scheint, ein Park, Paare, Passanten, Büsche, die Kamera
fährt zu auf einen Mann auf einer Bank, er sitzt hintenüber, er schläft.
Die nächsten Bilder, die wir sehen, sind so genau nicht zu bestimmen. Er
sieht eine Frau, er steht auf, die sprechen miteinander über eine Begegnung,
die eine Weile zurück liegt. Sprechen wir, sagt sie, über "ERLÖSUNG".
Sie zieht ein Messer, aus, Schwarzblende. Ein Traum. Vielleicht, wie gesagt.
Der
Traum im Film als Wirklichkeit möglicher Bilder gebiert eine Wirklichkeit
der realistisch unmöglichen Bilder. Manifeste Geister. Also: Auftritt manifester
Geist, Marie begegnet Julien (Kapitel 1: Julien). Eine Wiederbegegnung. Bald
sprechen sie über seinen Traum, über eine andere Frau, einen anderen
Mann. Und noch eine Frau. Ein anderer Plot, ein ganz anderer. Setzung einer
zweiten Geschichte, denn die
Geschichte von Marie und Julien
ist auch die Geschichte von Julien und Madame X. Und die Geschichte von Madame
X und ihrer Schwester, die Selbstmord beging und Auftritte haben wird als manifester
Geist. Julien, Marie, Madame X, Adrienne. Nicht zu vergessen Nevermore, die
Katze, das vielleicht eine Spur zu aufdringliche Poe-Zitat. Aber wer sagt hier
nevermore, die
Raben sind nicht, was sie scheinen!
Strukturfragen:
Der Plotzusammenhang ist schiere Behauptung, ja, sagen wir noch einmal: Setzung.
Rivette setzt, er bildet nicht ab. Wenn bei Pialat (um Rivettes klarsten Gegenpol
zu nennen) die Ellipse ausgefallene Wirklichkeit ist, die gerade im Ausfall
nach der Authentizität der Unvollständigkeit strebt, ist sie bei Rivette
stets die reine Willkür. Alles kann geschehen sein, nichts ist unmöglich.
Das Leben ein Traum, die Ellipse eine Hintertür, ach was, hier wird nichts
verborgen: eine Vordertür, durch die die Figuren einsteigen, aussteigen
wie, unvergesslich, Jeanne Balibar in "Va Savoir" durch eine Dachluke
einfach aussteigt. Die Geschichten der Filme von Jacques Rivette sind permeabel,
die dünne Haut scheinbarer Wirklichkeit wird dabei weniger durchstoßen
als überwunden wie von Geistern, die durch Wände gehen, als wären
da keine Wände (Film-Bilder für den Irrealis: sichtbare Wände,
durch die man geht, als wären da keine - von hier, das nur nebenbei, gelangt
man schnell zu Brian De Palma). Die Wirklichkeit bei Rivette ist, im Register
des Realismus, nichts als der konstitutiven Differenz von Bühne und Zuschauerraum
beraubtes Theater (und als Theater: Calderón, Pirandello - siehe noch
einmal "Va Savoir"). In die Wirklichkeit des Filmbildes rückübersetztes,
ontologisiertes Theater aber ist: die Geschichte von Geistern. Tatsächlich
arbeitet Rivette an einer Art spielerischen Grammatik der Durchdringung und
Permeabilität der Wirklichkeiten im Film. Theater und Geister, Türen
und Träume, Marie, Julien, Nevermore.
Die
Pointe der "Geschichte von Marie und Julien" ist kein Twist. Es gibt
nur einen Prozess der Klärung der Verhältnisse, eine Phase atemberaubender
Ungewissheit, die eine unmögliche Nähe, eine physische Nähe ist.
Physische Nähe, allegorisch dargestellt: Sex, nächste Nähe zwischen
Geist und Nicht-Geist und im Allegorischen zeigt Rivette hier das erste Mal
in seiner Karriere Sex. Der aber nur das eine bedeutet: dass auch die größte
Nähe der Körper die Kluft nicht schließen kann zwischen dem
Untoten und dem Lebenden. Julien, der von einem Geist besessen ist, kann diesen
Geist nicht besitzen. Marie, die von einem Lebenden besessen ist, hat selbst
kein Leben mehr. Das ist eine alte Geschichte, ein Märchen, eine Sage,
deren existenzielle Wucht Rivette hier, ganz unboulevardesk, ausspielt. Diese
Wucht lässt sich recht einfach übersetzen: Marie ist eine Sterbende,
wir sind Sterbende, wir sind vom Tod umfangen, Marie, sinnliche Erscheinung,
manifestes Gespenst, ist Allegorie, auch das, der Vergänglichkeit. Und
es führt kein Weg zurück vom Tod in das Leben. Vielleicht, denn das
eine gilt für jeden Rivette-Film, Marie spricht es aus: Wir kennen die
Regeln nicht. Womöglich gibt es eine Hintertür.
Rivette
liebt das Gleiten zwischen Allegorie und Buchstäblichkeit - und nimmt dabei
nur das Prinzip des Allegorischen beim Wort, das in der Möglichkeit (als
Setzung!) seiner Bedeutungen gedreht und gewendet werden kann. Die Hintertür
mag nichts anderes sein als einfach eine Tür. Daher die Faszination für
Häuser. Die
Geschichte von Marie und Julien
ist Rivettes zweiter großer Hausfilm nach Céline
und Julie.
Ein Zimmer ist ein Zimmer und es ist zugleich der Ort einer überaus komplexen
Inszenierung von Liminalität, Wiederholung, Traum, Verlust und Erlösung.
Die vielleicht stärkste Szene des Films entwirft diesen Grat zwischen Wirklichkeit
und Transzendenz als traumwandlerisches Verhängnis von Vergängnis.
Man muss es sehen, um es zu glauben. Was man auch sehen muss: den verschwindend
geringen Aufwand, den Rivette treibt in der oft ja nur andeutenden Setzung allegorischer,
anderer Bedeutung. Die Wirklichkeit ist immer auch Kulisse. Die Tür als
Hintertür, die Hintertür als Tür. Das Leben ein Traum. Wir kennen
die Regeln nicht. Vielleicht ist ein Ende denkbar wie im Märchen. Sehen
Sie selbst.
Ekkehard
Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen in:
Die Geschichte von Marie und Julien
Frankreich
2003 - Originaltitel: Histoire de Marie et Julien - Regie: Jacques Rivette -
Darsteller: Emmanuelle Béart, Jerzy Radziwilowicz, Anne Brochet, Bettina
Kee, Olivier Cruveiller, Mathias Jung - FSK: ab 12 - Fassung: O.m.d.U. - Länge:
150 min. - Start: 26.8.2004
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