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Das
Gesicht
Magie der Kunst
und Rationalität
Wie ein Scherenschnitt öffnet sich das Bild
auf eine Landschaft, auf eine Kutsche und deren Insassen. Wir schreiben das
Jahr 1846. Und der Erzähler erläutert uns kurz, dass es um ein merkwürdiges
Ereignis gehe, um teils skurrile Figuren, die mit der Kutsche unterwegs sind
in die schwedische Hauptstadt. Fast sieht es so aus, als wären wir in einem
Märchen- oder Fantasy-Film. Aber das täuscht.
Dieser wenig bekannte Film des schwedischen Regisseurs
Ingmar Bergman präsentiert uns mit seinen Stammschauspielern Max von Sydow,
Ingrid Thulin, Bibi Andersson und Erland Josephson eine tatsächlich merkwürdige
Geschichte, die um die Themen Rationalität und Irrationalität, Kunst
und die Wahrnehmung von Künstlern und Gauklern in der Öffentlichkeit
kreist, eine in gewisser Weise sehr persönliche Geschichte des Regisseurs,
die nicht zuletzt die Frage stellt, ob Kunst angesichts einer zunehmend rationalistischeren
Welt überhaupt noch eine Existenzberechtigung zugesprochen wird.
Wir treffen auf das "Magnetische Heiltheater"
des Arztes und Magiers Dr. Albert Emanuel Vogler (Max von Sydow). In seiner
Begleitung reisen seine Frau Manda (Ingrid Thulin), die sich meist als Mann
verkleidet und Herr Aman nennt, die Großmutter Voglers (Naima Wifstrand),
die sich gern in der Rolle einer Hexe sieht, der redselige Tubal (Åke
Fridell) und der Kutscher Simson (Lars Ekborg). Vogler ist schweigsamer Mann,
trägt eine Perücke und einen Bart und verkauft sich in der Öffentlichkeit
als Stummer. Auf dem Weg durch den Wald gabelt die Truppe einen Schauspieler
namens Johan Spegel (Bengt Ekerot) auf, der glaubt, im nächsten Moment
sterben zu müssen. Und tatsächlich glauben die Mitglieder der Truppe,
Spegel sei wenig später in der Kutsche gestorben. Der Schauspieler ist
verzweifelt, weil er keine Anerkennung für sein Tun (mehr) bekommt.
An einer Polizeistation werden die Gaukler, die auf
Jahrmärkten in ganz Europa auftreten, festgehalten und nach einer kurzen
Kontrolle zwangsweise zum Haus von Konsul Egerman (Erland Josephson) gebracht.
Dort warten der Naturwissenschaftler Dr. Vergerus (Gunnar Björnstrand),
Egerman und der Polizeipräsident Starbeck (Toivo Pawlo), um Vogler zu empfangen.
Sie wissen über Vogler, dass der durch sein "magnetisches Heiltheater"
angeblich Menschen von ihrer Krankheit befreit habe. Vergerus und Egerman haben
eine Wette abgeschlossen: Vergerus ist der Meinung, was Vogler mache, sei Betrug,
es gebe keine übersinnlichen Fähigkeiten und Kräfte. Egerman
und seine Frau Ottilia (Gertrud Fridh) hingegen sind von solchen Fähigkeiten
überzeugt. Starbeck glaubt nur, was er sieht; er steht auf Vergerus Seite
und hat sowieso etwas gegen fahrendes Volk und Gaukler.
Starbeck zwingt Vogler und seine Truppe unter Drohungen,
am nächsten Morgen eine Privatvorstellung zu geben - um zu beweisen, dass
er ein Schwindler ist.
Auch die Hausangestellten haben natürlich von
der Ankunft der Truppe erfahren. Egerman schickt die fahrenden Künstler
in die Küche zum Esen, und dort treffen sie auf die beiden Mägde Sara
(Bibi Andersson) und Sanna (Birgitta Pettersson), die Köchin Sofia Garp
(Sif Ruud) und den mürrischen Kutscher Egermans Antonsson (Oscar Ljung).
Während Tubal und Großmutter Vogler ihre Mittelchen verkaufen, die
angeblich die Liebeskräfte steigern, macht sich Simson an die schöne
Sara heran, vorsichtig, aber bestimmt, und Tubal und Sofia fühlen sich
ebenfalls voneinander angezogen. Nur Antonsson bleibt mürrisch und skeptisch
gegenüber den Voglers; er hasst das fahrende Volk genauso wie Starbeck.
Am nächsten Morgen kommt es zur Vorführung
der Voglers. Und - kaum zu glauben - ausgerechnet Antonsson wird zum "Opfer"
eines Tricks, bei dem - offenbar aus Versehen - Vogler sein Leben lassen muss.
Dann allerdings kommt alles anders, als sich Egerman, Starbeck und Vergerus
es sich gedacht hatten ...
Man könnte meinen, den Film beherrsche eine
überwiegend düstere Atmosphäre. Doch Bergman gelingt es, in diese
teilweise Finsternis - inszeniert in prachtvollen Bildern, in denen mit Licht-
und Schatteneffekten gearbeitet wird - einen guten Schuss Ironie und Komik zu
"schütten", der bis zum Schluss die Geschichte in einem zwar
ernsten und kritischen Licht erscheinen lässt, aber darüber Lebensfreude
und Heiterkeit nicht vernachlässigt.
Vogler ist ein schlauer Mann, der allerdings immer
wieder auf die Arroganz, ja die Hybris von Leuten stößt, die mit
Kunst und Magie nicht nur nichts am Hut haben, sondern sie hassen wie die Pest.
Vergerus und Starbeck gehören zu dieser Sorte Menschen. Vergerus ist ein
überzeugter Anhänger nicht nur der Naturwissenschaften und des Rationalismus,
mit dem er die gesamte Welt überziehen, erklären will, sondern auch
ein intelligenter Kopf. Starbeck hingegen gehört eher zu den Dummköpfen
dieser Welt, denen man (leider) ein bisschen oder ein bisschen zu viel Macht
übertragen hat, die sie im eigenen Interesse weidlich einsetzen.
Ihnen gegenüber stehen Vogler, seine Frau und
seine Großmutter, von der man nicht weiß, ob sie an das Übersinnliche
wirklich glaubt oder ob sie ihre entsprechende Attitüde gegenüber
dem Glauben und Aberglauben vieler Menschen nur geschickt einzusetzen weiß.
Am Schluss des Films wird sich diese Frage lösen. Manda liebt ihren Mann,
aber sie ist nicht der Mensch, der ernsthaft an die Magie glaubt. Sie und Vogler
sind Künstler, die Menschen erfreuen und staunen lassen wollen und von
dieser Arbeit leben. Und Vogler ist - wie er in der Privatvorstellung bei Egerman
überzeugend beweisen kann - ein exzellenter Magier.
Parallel zu dem Konflikt zwischen der Kunst und einem
übersteigerten und man kann schon sagen teilweise menschenfeindlichen Rationalismus
erzählt Bergman von damit verbundenen personellen Verknüpfungen nach
der Ankunft der Truppe im Haus Egermans, etwa wenn er Frau Egermans Sympathie
für Vogler in einem eindeutigen Angebot Ottilias an den Magier kulminieren
lässt, das der Ehemann - versteckt hinter einer Tür - mitbekommt.
Die Egermans sind seit dem Tod ihres Kindes entzweit. Doch das Angebot Ottilias
macht aus dem Konsul einen eifersüchtigen Ehemann.
Am meisten zu denken gibt Vogler aber - der dem Angebot
Ottilias nicht folgt - Vergerus, den Vogler derartig täuscht, das der lange
Zeit nichts davon merkt und an seinem eigenen Verstand zu zweifeln beginnt.
"Ansiktet" ist vor allem eine Art Selbstschau
auf die Kulturszene, oder genauer auf die Stellung der Kunst und der Künstler
in einer sich selbst für aufgeklärt haltenden Gesellschaft - wobei
gerade diejenigen, die sich für besonders aufgeklärt halten, zu den
erklärten Feinden einer (magischen) Kunst gehören. Auch wenn der Film
im 19. Jahrhundert spielt, hat er doch eindeutige Bezüge zur Gegenwart.
In jeder Situation ist die Kunst und sind die Künstler gezwungen, ihre
Existenzberechtigung zu beweisen, sich gegenüber den rationalisierten wirtschaftlichen
und politischen Strukturen und ihren Protagonisten zu behaupten. Auch im Film
trennt sich die Spreu vom Weizen. Der dicke Tubal, der nicht gerade zu den Mutigsten
gehört, wird von der doch leicht herrschsüchtigen Köchin "eingefangen",
während die lebenslustige Sara lieber ihrem Kutscher Simson und damit Voglers
Truppe folgt. Und Großmutter erweist sich eher als eine geschäftstüchtige
Frau, denn als eine "wirkliche" Hexe.
Interessant ist der Film auch bezüglich der
Gegensatzpaare Wahrheit und Lüge, Ehrlichkeit und Betrug - erweisen sich
doch die überzeugten Rationalisten Starbeck und Vergerus als Zyniker, hinterhältige
und boshafte Betrüger, die Vogler entgegen ihren Versprechungen am Ende
hinter schwedische Gardinen sperren wollen. Demgegenüber erweist sich der
Magier - der angebliche Scharlatan und Betrüger - als jemand, der den ehrbaren
Leuten eine deutliche und überzeugende Lektion erteilen kann, und als ein
Menschenfreund allen anderen gegenüber. Vogler und Manda erweisen sich
als wirkliche Rationalisten, die aber die Magie des Lebens und der Kunst in
diese Rationalität einbeziehen, statt sie ausklammern zu wollen.
"Ansiktet" ist ein außergewöhnlicher
Bergman-Film, einer der bereits den Übergang verkündet zu seinen späteren
Filmen, einer, in dem Bergman die Kunst und die Künstler - welcher Art
auch immer - verteidigt und vor dem Zugriff einer verrückt gewordenen rationalistischen
Welt filmisch "schützt".
DVD
"Das Gesicht"
erscheint in der Werkschau zu Bergman bei Arthaus, in der noch etliche weitere
Filme des Regisseurs erschienen sind. Obwohl Arthaus auf Bonusmaterial (außer
Texttafeln mit Produktionsnotizen und einer Biografie des Regisseurs) verzichtet
hat, "lebt" der Film auch für sich allein und wird in glänzender
Bild- und Tonqualität präsentiert.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist
zuerst erschienen bei:
Das
Gesicht
(Ansiktet)
Schweden
1958, 100 Minuten
Regie:
Ingmar Bergman
Drehbuch:
Ingmar Bergman
Musik:
Erik Nordgren
Kamera:
Gunnar Fischer
Schnitt:
Oscar Rosander
Darsteller:
Max von Sydow (Albert Emanuel Vogler), Ingrid Thulin (Manda Vogler alias Herr
Aman), Gunnar Björnstrand (Dr. Vergerus), Naima Wifstrand (Großmutter
Vogler), Bengt Ekerot (Johan Spegel), Bibi Andersson (Sara), Gertrud Fridh (Ottilia
Egerman), Lars Ekborg (Simson, Kutscher), Toivo Pawlo (Strabeck, Polizeipräsident),
Erland Josephson (Konsul Egerman), Åke Fridell (Tubal), Sif Ruud (Sofia
Garp), Oscar Ljung (Antonsson, Kutscher Egermans), Ulla Sjöblöm (Henrietta
Starbeck), Birgitta Pettersson (Sanna), Axel Düberg (Rustan, Bediensteter
Egermans)
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