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Gespenster
Gegen die Verhältnisse
Christian
Petzolds neuer Film "Gespenster" muss als glücklicher Film gesehen werden.
Er handelt auf besondere Weise von einer besonderen Art von Wirklichkeit. Man
sieht sie jeden Tag und hat sie doch nie gesehen: die Wirklichkeit des Alltags
als Märchen
Die Antwort auf
die Niedergeschlagenheit in Mitteleuropa ist Johann Sebastian Bach. Seine Musik
öffnet einen hohen Raum über dem Elend. Als Materialist könnte man wohl sagen,
dass sie erklärt, dass es keine "Privatsachen" gibt. Man kann
natürlich auch Transzendenz sagen. Jedes Bewegungsbild, das mit der Musik von
Johann Sebastian Bach verbunden wird, erhält eine zweite Räumlichkeit, eine
euphorische Gewissheit (so wie man mit Schubert, zum Beispiel, dem Film eine
zweite Bewegung verleihen kann). Es gibt Kino-Bilder, die ohne Bach nicht zu
ertragen wären.
Oder umgekehrt.
Sagen wir: eine Autofahrt durch Berlin, wie sie am Beginn von Christian
Petzolds "Gespenster" steht. Bachs Arie von den "Bächen von
gesalznen Tränen" enthält die Unerträglichkeit und die Überwindung. Um es
noch einmal anders zu sagen: Die Menschen, die wir in den folgenden Bildern
kennen lernen, sind nirgendwo als in dieser Musik zu Hause. Sie haben keine
soziale Heimat, nicht einmal eine "Hood", kein Milieu, keine Codes.
Sie haben kein genaues Woher und Wohin, ihre Menschengewissheit liegt außerhalb
der Handlung, außerhalb jenes Raumes, den eine Kamera vielleicht suchen, aber
auf keinen Fall mehr "festhalten" kann.
Schon mit den
ersten Einstellungen ist man in einer besonderen Art von Wirklichkeit: Man
sieht etwas, das man jeden Tag sieht, und von dem man im gleichen Moment
bemerkt, dass man es nie gesehen hat. Der Alltag. Nina (Julia Hummer) hat einen
der Jobs, von denen man sich in Hartz-IV-Deutschland "besser als gar
nichts" zu sagen angewöhnt hat. Das "Heimkind" trägt eine dieser
Leuchtjacken, die mittlerweile zur visuellen Perforation des mehr oder weniger
öffentlichen Raums geworden sind: Ausdruck materieller oder sozialer
Katastrophen. Sie säubert den Rasen im Berliner Tiergarten.
Nina wird Zeuge,
wie eine junge Frau von Männern geschlagen wird. Sie findet einen Ohrring auf
dem Kies. So treffen sich zwei Menschen, Nina, die sich trotzig und scheu der
Welt verschließt, Toni, die Diebin, die sie sich für die eigenen Wünsche
öffnet. Funktionieren, wie man so sagt, tut beides nicht.
Bewundernswert,
wie in den Szenen dieser Begegnung Petzold uns hineinzieht, in Bilder, die auf
beides weisen: eine Wirklichkeit, wie man sie als normaler Mensch nur in den
seltenen Zuständen erregter Übermüdung, in der sensiblen Ernüchterung nach
einem Lebensrausch oder in eigenen Suchbewegungen empfindet, ganz ohne
routiniertes Ausblenden des Selbstverständlichen, das uns nichts angeht. Und
das Märchen, das auch hier mit dem Überschreiten einer Grenze, mit dem Fund
eines magischen Objekts, mit ängstlichem Staunen beginnt. Und in dem es nichts
gibt, was "nur so" da ist.
Nina und Toni
sind die verlorenen Märchenkinder in der Wirklichkeit. Immer gibt es da dieses
Paar. Zaudernder Hänsel und tatkräftige Gretel. Das Sehen und das Handeln,
Geben wollen und Nehmen müssen, Peter Pan und Wendy, und immer zeigt sich im
Verlauf der Geschichte, dass eines nicht besser ist als das andere, dass aber
auch keine Verschmelzung möglich ist. So sehr sie ersehnt ist. Wie der Kuss
zwischen Peter Pan und Wendy, der sie in Wahrheit trennt, wie der Tanz von Nina
und Toni im Diskotheken-Rot, der sie vereint und trennt. Nur im Hinblick auf
das andere, auf die Gefahr, auf den Zauber, und nur in der Bewegung gelingt die
Einheit. Man wird einander wieder verlieren, so viel ist gewiss.
Da ist also die
dritte Frau, Françoise, die Mutter auf der Suche nach ihrem verlorenen Kind,
das hier in der Stadt vor vielen Jahren entführt wurde. Pierre, der Mann,
versucht, überredend, sanft, sie zur Rückkehr nach Paris zu bewegen. Zurück in
die Wirklichkeit. Aber Françoise glaubt, in Nina ihre Tochter gefunden zu
haben. So wird Berlin, aus dem Grün des Tiergartens heraus, zum Zauberwald der
Identität.
Verrückterweise
aber ist es gerade diese Märchenkonstruktion des Films, die den Blick für das
Wirkliche schärft. Das Wirkliche, das besteht zum Beispiel aus
Machtverhältnissen. Das beginnt mit dem Aufseher, der Nina gleich am Anfang
demütigt, der ihr noch in diesem Job, der ohnehin die neoliberale Parodie der
Sklavenarbeit ist, einen Arbeitsbetrug unterstellt, und der den Müll, den sie
gesammelt hat, wieder über der Wiese auskippt, als gelte es noch den Rest von
Sinn und Dramaturgie darin abzutöten. Es führt in die Heime, Straßen und
Kaufhäuser, nein, eben nicht "Kaufhaus", sondern der
"H&M"-Laden, der in jeder gottverdammten Einkaufszone dieser
gottverdammten Republik die gottverdammt gleichen Klamotten anbietet, die
Uniformen der Klasse, aus der Nina und Toni stammen; und nicht zuletzt geht es
ja um eine Bürgerin, die die verlorene Tochter nur in der neuen Sub-Klasse
suchen kann.
Das
Menschensuchen ist in der Welt des Bildermachens nicht leichter geworden. Die
Welt besteht vielmehr aus Spuren der Verschwundenen. Die Überwachungskamera hat
ein Bild der Entführung aufgenommen. Die Magie dieses Films, der so ruhig
erscheint, während er zum Bersten erfüllt und angespannt ist, entsteht nicht
zuletzt durch die Grammatik der Darstellung. Petzold lädt nicht zur
Identifikation ein, man sieht die Welt nicht durch die Augen der Protagonisten,
und man erhält kein Plädoyer fürs Mitleid. Es ist eine Nähe, die nicht mit der
Illusion des psychologischen Realismus abgefedert wird. Aber genauso wenig sind
seine Figuren reine Phantasmen in einem metaphorischen Spiel. Es geht ja um
Gespenster, die Menschen werden wollen. Was aber ist ein Mensch? Bizarrerweise
eben gerade nicht Ich. Ein Mensch ist immer ein anderer. Einer, von dem ich
dieses oder jenes wahrnehmen und wissen kann, den ich deswegen noch lange nicht
verstanden oder erklärt haben kann. Ein anderer Mensch ist etwas, was ich weder
haben noch sein kann. Und so filmt Petzold seine Menschen. Nicht als
"Ich" und nicht als "Sie", sondern als Du.
Das hat
Konsequenzen. Zum einen nehmen uns die Filme von Christian Petzold im
Besonderen und die Filme der "Berliner Schule" im Allgemeinen als
Zuschauer wesentlich ernster, als wir das gewohnt sind. Wir sind in diesem
Dialog beteiligt am Prozess der Menschwerdung, während wir uns gleichzeitig die
Frage stellen müssen: Hey, wie leben wir denn eigentlich? Ist das unsere Welt,
unsere Sprache, unsere Beziehung zueinander? Gerade weil uns die Figuren als
autonome Gegenüber entgegentreten, wächst die Verantwortung gegenüber einer
gemeinsamen Welt, wächst das Selbstbewusstsein des Blicks. Handwerklich
gesprochen: Gerade weil die Schauspieler so gut sind, gerade weil eine
Einstellung so genau ihre Dauer gefunden hat, sehen wir eine Stadt, ein Ding,
ein Ritual (wie das Casting, das über einen Eintritt in die Bildermaschine
entscheiden soll und das uns in so vielen hässlichen Filmen als
"Schicksal" verkauft wird), all die Dinge, die in der gewohnten
melodramatischen Organisation von Welt und Gefühlen verschwinden müssen oder
zur moralischen Kulisse werden. Das Großartige ist: dass der Mensch nicht
aufgeht in seiner Welt. Beinahe jede Einstellung des Films findet diesen
Augenblick der reinen Wahrheit, und wie bei Bresson, zum Beispiel, weiß man
nicht genau, ob man in diesem Augenblick der Wahrheit vor Glück oder vor
Schmerz zerspringen soll. Bei Bach weiß man das ja auch nicht.
Petzolds
Menschen-Kino funktioniert zum anderen, weil auch seine Schauspieler diese
Mischung aus Selbstbewusstsein und Demut haben. Dahinter steckt auch eine
Methode der Befreiung, von der Diktatur des geschriebenen Wortes zum Beispiel,
von der Kreation des Image, von der Hierarchie von Darstellung und
Inszenierung. Was man ganz tief am Grund eines Petzold-Filmes sehen kann, das
ist der Respekt, den die Beteiligten füreinander haben. Film ist hier nicht ein
Erzählen und Zeigen, sondern ein gemeinsames Fragen. Eine Erfahrung, um ein
etwas hochtrabendes Wort zu benutzen.
Natürlich ist
"Gespenster" ein Film der Trauer. Hoffnungen erfüllen sich nicht.
Gefühle müssen verraten werden, Zeichen haben getrogen. Märchen und
Wirklichkeit werden so wenig zu einer Einheit wie Innen- und Außenwelt. Eine Lösung
gibt es nicht, und der Zorn findet kein greifbares Objekt; selbst das Element
der "Gnade" im Augenblick des größten Leids, wie wir es aus dem Kino
des "transzendentalen Stils" kennen, steht nicht am Ende wie der
Notausgang für Leute, die an Happy-Endings nicht mehr glauben.
Und trotzdem muss
man sich "Gespenster" als einen glücklichen Film vorstellen. Nicht
nur, weil Kunst immer glücklich ist. Sondern auch, weil er das Recht des
Menschen verteidigt. Gegen die Verhältnisse, die ihn zum Material machen, gegen
die Bilder, die ihn zum Indiz reduzieren, und auch gegen ein Kino, das ihm das
Gespensterdasein schmackhaft machen will.
Georg Seeßlen
Dieser
Text ist zuerst erschienen in der taz
Zu
„Gespenster“ gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Kritiken
Gespenster
Deutschland 2005 -
Regie: Christian Petzold - Darsteller: Julia Hummer, Sabine Timoteo, Marianne
Basler, Aurélien Recoing, Benno Fürmann, Anna Schudt, Claudia Geissler, Phillip
Hauß, Victoria von Trauttmansdorff - Prädikat: wertvoll - FSK: ab 12 - Länge:
85 min. - Start: 15.9.2005
Homepage: www.gespenster-der-film.de
Die „Gespenster“-DVD ist seit dem 07.07.2006 bei dem Label Piffl im
Handel
Technische
Angaben:
FSK: ab
12
Laufzeit:
85 min
Tonformat:
Dolby Digital 2.0.
Bildformat:
16:9
Sprachen:
Deutsch und Französisch
Untertitel:
Deutsch, Englisch
Extras:
Making of, ausführliches Booklet
Ländercode: 0
Vertrieb:
Indigo
Best.Nr.:
78858
EAN 4015698788587
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