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Der
gläserne Himmel
Prosaisch gesagt, handelt es sich um das Glasdach
einer altmodischen Einkaufspassage, Baujahr 1846, im Norden von Paris, zwischen
der Gare St. Lazare und Sacre Cœur. Julien (Helmut Berger) eilt durch die Galerie,
um den beiden Frauen rechtzeitig Frühstück ans Bett zu bringen, wie
es sich für einen passiven Typ gehört, nämlich einmal der Geliebten,
vor allem aber seiner alles beherrschenden Mutter (Agnes Fink in einer herrlich
dominanten Rolle). Kein Wunder, daß Erfüllung ihm bei derartiger
Dienstleistung versagt bleibt; und so bevölkert er die Galeriepassage mit
dem Personal seiner Tagträume: Räuber, Nutten, Zuhälter; Bars,
Steigen und einsame Gassen im fahlen Dämmerlicht. Ziemlich böse, diese
Szene, aber auch verlockend; der Film hat sie kunstvoll überhöht;
das fahle Dämmerungslicht ist von exquisitem Geschmack; Tenorsaxophon und
Pianosolo (Musik: Flora St. Loup) sensibilisieren das Gemüt; der Film von
Nina Grosse ist eine Art filmisches Riesenchanson von der Güte des Boulevard
des Crimes.
Wie es Chansons an sich haben,
scheut auch DER GLÄSERNE HIMMEL keine Klischees, um aus der Tristesse des
kleinbürgerlichen Quartiers poetischen Gewinn zu ziehen. Entscheidend ist,
ob Nina Grosses Tagtraumpoem anfängt zu klingen und zu singen und ob man
sich von seiner Welt gefangennehmen lassen möchte. Nun bin ich zwar mit
den Leuten, mit denen ich im Kino war, in heftigen Streit geraten, was am GLÄSERNEN
HIMMEL Tagtraum war und was nicht, Ergebnis ist für mich: Es hat geklungen
und gesungen - auch wenn ich ein paarmal geschluckt habe, weil die Metaphern
ein wenig gar zu explizit gerieten.
Wieder schwimmt der Fisch in seinem
gläsernen Aquarium. Und wie ist es beim Menschen? Schon richtet sich die
Kamera aufs schützende Glasdach, und dann sagt es eine Stimme laut und
deutlich, ja, es ist der gläserne Himmel, und dieser schützt uns wie
lange? „Solange er nicht über unserem Kopf zerbricht". Und was sonst?
„Dann versinkt eine Stadt im Meer und taucht erst nach tausend Jahren wieder
auf“. Die literarische Überhöhung wird legitimiert mit Zitaten
aus Baudelaire, Les fleurs du mal. Wenn unser Protagonist Julien dann schnell
mal was fragen will, hat es folgerichtig das Niveau von „Ich weiß nicht,
wohin du enteilst". Klar, daß die Frau sich auf diese geschmäcklerische
Tonart nicht einstimmt. „Ich war im Kino", sagt sie, „im Sebastopol. Es
gab: Die grausame Rache der wilden Todesreiter". - Julien schrickt wieder
in seine Passivität zurück. Um ihn herum würgt ein Frauenmörder
die Nutten zu Tode, eine nach der anderen; Julien läßt es geschehen;
in der schäbigen Absteige liegt er auf dem Bett; wie es um ihn bestellt
ist, sagt uns vernehmlich der Ton: Draußen auf der Straße versucht
jemand sein Auto anzulassen, wieder und wieder und natürlich vergeblich,
nur ganz kurz hört man ein Lalü-lala vorbeifahren, dann wieder umsomehr
Stille, Schweigen und allgemeine Melancholie. Julien weint.
Der weinende Mann ist ein Tourist in Paris. Als ob
er zum ersten Mal mit der Metro führe, studiert er sorgsam die Schilder:
Sortie, fin de train. Und DER GLÄSERNE HIMMEL ist ein urdeutscher Film,
der sich probeweise auf Reisen begibt, um ganz sicher zu sein, das Land der
Sehnsucht unbeschädigt von der heimischen Realität vorzufinden. Wenders
und Schlöndorff schufen für die großen deutschen Gefühle
Platz im fernen Amerika, und vor einigen Jahrzehnten - um bei der Fisch-Methapher
zu bleiben - glichen die Deutschen ihr emotionales Defizit bei den Caprifischern
aus. Irgendwo dazwischen liegt DER GLÄSERNE HIMMEL. Ihm gelang es so gründlich,
sich in der Passagen- und Galerie-Welt von Paris abzuschotten, daß die
Totale auf Paris in der Schlußsequenz des Films wie ein Schock wirkt.
Im dämmrigen Blaugrün steigt rätselhaft Notre-Dame aus dem Häusermeer
auf, und unser Held wird ebenso rätselhaft aktiv. Mit jähem Zugriff
raubt er einem artigen Kind die Zuckerwatte aus der kleinen Faust. Ja, Julien,
jetzt bis du ein ganzer Mann. Hauptsache, du bist es nicht, der heult, n'est-ce
pas?
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: epd Film 4/88
DER
GLÄSERNE HIMMEL
Bundesrepublik
Deutschland 1987. R: Nina Grosse. B: Nina Grosse (frei nach der Erzählung
„EI Otro Cielo“ von Julio Cortázar)., K: Hans Bücking. Sch:
Patricia Ronunel. M: Flora St. Loup. T: Holger Gimpel. A: Reiner Schaper. Christine
Pendelle. Ko: Regina Gothe. Pg: Avista Film/BR München. Voissfilm.
V: Impuls. L: 87 Min.
FSK: 12, ffr. FBW: Besonders wertvoll. St:
Frühjahr 1988. D: Helmut F. Berger (Lilien), Sylvie Orcier (Bichette),
Tobias Engel (Cortez). Agnes Fink (Mutter), Maria Hartmann (Irene). Flora St.
Loup (Kiki).
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