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Golden
Door
In seinen besten Momente wird „Golden Door“ ganz
sinnlich. Gleich am Anfang, wenn zwei Männer mit kantigen Steinen im Mund
einen felsigen Berg erklimmen: Man spürt die nackten Sohlen auf dem karstigen
Gestein, man fühlt die scharfen Ecken der Steine im Mund. Und erst später
wird deutlich, was vor sich geht: Sie sind auf einer Wallfahrt zum Gipfelkreuz,
bringen Steine und Schmerzen als Opfer, um einen Hinweis für den rechten
zukünftigen Weg zu erhalten. Später dann spürt der Film lange
und intensiv den Geräuschen und Bewegungen eines Schiffes nach, in eng
gereihten Kojen schlafende Passagiere unter Deck, auf den billigen, klaustrophobischen
Plätzen.
Zu diesem Zeitpunkt sind wir schon unterwegs nach
Amerika, wohin die Familie von Salvatore – zwei Söhne, seine Mutter – der
Armut Siziliens entfliehen will. Viel Zeit lässt sich der Film, Salvatore
hat sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht, und Regisseur Emanuele Crialese
folgt ihm Schritt für Schritt – die Wallfahrt auf den Berg, die Fotos aus
Amerika, die riesige Feldfrüchte und Bäume voller Geldmünzen
zeigen und deren gefälschten Charakter die sizilianische Bevölkerung
nicht durchschaut. Die Verheißungen einer angeblichen Moderne werden für
bare Münze genommen, das goldene Tor scheint weit geöffnet; doch es
ist schwer, die eigenen Wurzeln aus dem sizilianischen Boden zu reißen,
besonders für Salvatores Mutter, eine Heilerin, die fest dem Volksglauben
verwurzelt ist.
Doch Salvatore ist entschlossen, hat er doch in seinen
Imaginationen Amerika gesehen, wo Flüsse aus Milch und Honig fließen…
„Ich habe die Geschichtsbücher beiseite gelegt und mich auf die parole
di carta oder ‚Papierworte’ konzentriert, wie die Briefe genannt wurden, die
Millionen von Italienern ihre Landsmännern diktierten, die schreiben konnten,“
sagt Crialese. „Ich beschloss, eine Erinnerung zu rekonstruieren, die nicht
nur aus Erfahrungen aus erster Hand bestand, sondern auch selektiv und deshalb
bis zu einem gewissen Grad unvollständig, latent und mit mehr oder weniger
freiwillig unterdrückten Elementen angereichert war.“ Ein ganz subjektivierter
Film also, ein Film, der nicht nur den Weg von Wirtschaftsflüchtlingen
aus dem Sizilien um 1900 nachzeichnet, sondern einer, der versucht, ihre Empfindungen,
ihre Gefühle genauestmöglich nachzuzeichnen. Deshalb bleibt er ganz
im Wissenshorizont von Salvatore, ohne je anzudeuten, was künftig werden
könnte; und deshalb erzählt er so langsam, so genau, eine Art inszenierte,
stilisierte Dokumentation von Ereignissen, die so nie stattgefunden haben…
Lucy, die schöne Engländerin mit der zweifelhaften
Vergangenheit, die Salvatore auf dem Schiff kennenlernt, braucht einen Mann,
einen Verlobten, um ins gelobte Land einreisen zu dürfen. Kranke, dumme,
schwache Menschen werden ohnehin sofort aussortiert bei den Untersuchungen auf
Ellis Island – Amerika kann nur Menschen als Arbeitsmaterial brauchen, niemanden,
der zur Last fällt. „Schwachsinnige“ werden daher aussortiert, denn Dummheit,
so die modernsten Erkenntnisse der Wissenschaft, ist vererbbar und würde
die amerikanischen Bürger verunreinigen… Hier, nach der Ankunft in Amerika,
wird Crialese konkret, indem er die Unzulänglichkeit (und ethische Fragwürdigkeit)
zeigt, mit der die US-Einwanderungsbehörden die Rosinen aus den einreisewilligen
Massen herauspicken. Pietro, der Sohn, der nie redet, soll einen Stuhl zur Tür
tragen, die Tür öffnen, ein Buch auf den Boden legen: Unsinnige Befehle,
die seinen Geisteszustand offen legen sollen, Tests, die nie auf die pragmatische,
erdgebundene Lebensweise der ungebildeten Sizilianer eingehen. Die ledigen Frauen
müssen sich ihren amerikanischen Freiern stellen, vom Heiratsvermittler
ausgesucht; ein Blumenstrauß wird überreicht vom Fremden an die Fremde,
und wenige Tage später wird die Trauung stattfinden, behördlich angeordnet…
Dennoch ist der Film keine politische Anklage; merkwürdig
unentschieden scheint er in seiner Zielrichtung. Er baut ein Spannungsfeld auf
zwischen dem kargen, handfesten Leben in Armut und den Hoffnungen und Erwartungen
an die neue Heimat; zeigt die Hürden auf, die innere Ungewissheit, die
lange Schiffsfahrt, die harten Auswahlkriterien in Amerika – doch wirklich auf
einen Punkt kommt „Golden Door“ nicht, vielleicht, weil auch für seine
Protagonisten alles im Unbestimmten, Vagen bleibt. Amerika, das gelobte Land:
Das spart der Film aus seinen Bildern aus, die Einfahrt in New York erfolgt
in dichtem Nebel, und auf Ellis Island stehen Milchglasscheiben zwischen den
Einwanderern und dem Anblick der Wolkenkratzer.
Harald Mühlbeyer
Dieser Text ist zuerst erschienen
bei:
Golden
Door
Italien / Frankreich
2006 - Originaltitel: Nuovomondo - Regie: Emanuele Crialese - Darsteller: Charlotte
Gainsbourg, Vincenzo Amato, Aurora Quattrocchi, Francesco Casisa, Filippo Pucillo,
Federica de Cola, Vincent Schiavelli - Länge: 118 min. - Start: 31.5.2007
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