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Die
Grauzone
Die
Grauzone
ist ein Film, der deutlich quer zu den opulenten, melodramatischen, gar nostalgisch
gefärbten deutschen Nazi-Filmen steht, die sich derzeit darin zu überbieten
scheinen, moralische Notausgänge zu liefern oder wohlfeil zu historisieren:
Es ist ein strenger, fast unbarmherziger Film, der dem Zuschauer einige Bilder
zumutet, die bislang geltende Abbildungsverbote überschreiten.
Wahrhaft
unbequem ist das Sujet, das der Regisseur und Autor Tim Blake Nelson gewählt
hat, ein vergessenes, höchst prekäres Element in der KZ-Struktur,
der Einsatz der „Sonderkommandos“, also jener Häftlinge, die als Helfer
in der Mordmaschinerie der Gaskammern und Krematorien eingesetzt wurden und
die, um selbst zu überleben, nicht nur die furchtbarste „Arbeit“ an den
Lebenden und Toten verrichteten, sondern die Häftlinge auch über ihr
wahres Schicksal betrügen und oft genug Gewalt gegen sie anwenden mussten.
Opfer, die zu Mittätern wurden, um Angehörige zu retten, oder sich
selbst, oder für ein wenig menschenwürdigere Lebensumstände vor
dem sicheren Tod. Am 7. Oktober 1944 kam es zu einem bewaffneten Aufstand eines
ungarischen Sonderkommandos in Auschwitz II-Birkenau.
Der
Film erzählt von den Vorbereitungen zu diesem verzweifelten Unternehmen
und macht es schon zu Beginn als das einzig mögliche und zugleich auch
im moralischen Sinne aussichtslose Unterfangen deutlich: Einer vom Sonderkommando
ermordet einen alten Häftling, um die Geheimhaltung nicht zu gefährden.
Das Ende des Krieges rückt nahe, und für die Mitglieder der Sonderkommandos
mochten ein Monat, eine Woche vielleicht das Überleben bedeuten. Aber ist
mit der Schuld zu leben, die man hier auf sich laden musste? So wenig eindeutig
die Position in jedem Einzelnen sein kann, so unterschiedlich sind auch die
Überlebensstrategien und moralischen Haltungen der verschiedenen Häftlingsgruppen.
Bis einer die Nachricht bringt, dass Partisanen am Lagerzaun Maschinenpistolen
deponiert haben und eine andere Variante ins Spiel kommt: Nach der Zerstörung
des Krematoriums wäre die Möglichkeit der Flucht gegeben. Die Mehrheit
entscheidet sich dafür, alle Kräfte auf die Zerstörung des Krematoriums
zu konzentrieren; der Aufstand wird durchgeführt, für kurze Zeit gelingt
es, der Übermacht der SS-Leute zu widerstehen.
In
der Geschichte der Versuche, Auschwitz in Film-Bilder zu bringen, schlägt
Die
Grauzone
gewiss ein neues Kapitel auf. Ich glaube, bewusst geht Tim Blake Nelson an den
Rand dessen, was erträglich ist, in den Darstellungen der Mordmaschine,
der Leichenberge und der Folterungen. Und ebenso bewusst löst er dabei
die Gewissheiten, die Konstruktionen von Tätern und Opfern, von Identifikation
und Sentiment auf, gewiss nicht im Sinne eines Relativismus, sondern um die
schreckliche Situation deutlich zu machen, in der die Menschen körperlich
wie seelisch gequält werden. Und um eben diese Frage offen zu halten: Welches
Verhalten wäre das richtige? Welchen Wert hat das einzelne Leben, das eigene,
das des nächsten? Ist Leben ohne Menschlichkeit möglich? Die Ästhetik
unserer „Erinnerungskultur“ derzeit scheint auf das Abschließende, das
Damals hinauszulaufen, daher schafft sie geschlossene Zeichenwelten, verführerische
Bilder einer Jenseitswelt. Nelson setzt dem ein offenes Bild entgegen. In Die
Grauzone
läuft alles, die Bildgestaltung, die Dramaturgie, der Dialog, die Charakter-Entwicklung
nur auf eines hinaus: Auschwitz ist nicht „vorbei“, die Nachgeborenen haben
keine Sicherheit, der moralische Konflikt zwischen Überleben und Moral
setzt nicht erst in der extremsten, der Höllensituation von Auschwitz,
sondern immer gerade jetzt ein.
Der
Film ist historisch genau – er benutzt Tagebücher der Mitglieder von Sonderkommandos
–, und er ist doch auch darüber hinaus ein Bild der Wahlfreiheit des Menschen
bis zum Ende. Kein morality
play,
kein Melodram, nicht einmal die Zuflucht der Tragödie. Auch in Auschwitz
hört der Mensch nicht auf, frei zu sein. Als Täter und als Opfer.
Nelson ist zunächst Schauspieler und Theaterautor, und seine Filme bleiben
auf die Bühnensituation bezogen, ohne die filmischen Mittel zu vernachlässigen.
Das ist auch in Die
Grauzone
zu spüren, den der Regisseur nach einem eigenen Stück drehte. Die
Entwicklung der Motive steht gegenüber der Zeichnung von Atmosphäre
im Vordergrund, die Charaktere bleiben Modelle und die Settings eher Kulissen,
am Rande zur Abstraktion.
Die
Nähe zum Theater ist zugleich die Stärke und die Schwäche des
Films. Stärke, weil er in keinem Augenblick den Gefahren erliegt, sich
in der Ausstattung und den melodramatischen Konstruktionen zu verstricken, keine
deskriptiven Einstellungen duldet, die uns mit dieser Welt „vertraut“ machen
würden, weil die Dialoge so konzentriert sind, dass sie stets den aktuellen
Konflikt, nicht aber die psychologische Füllung der Personen betreffen.
Schwäche, weil dabei auf das analytische Instrument filmischer Raum- und
Zeit-Konstruktion verzichtet wird, das Vernichtungslager daher eher als metaphysischer
denn als realer Ort erscheinen muss, ein existenzieller Zustand mehr denn eine
Struktur. Vielleicht kommen wenige Filme dem Wesen von Auschwitz so nahe, soweit
das überhaupt möglich ist, aber dazu muss er diesen Ort, an dem es
für die Menschen keine Geschichte mehr gibt, selbst zu einem geschichtslosen
Ort machen.
Georg
Seeßlen
Tim
Blake Nelson unternimmt nach einem eigenen Theaterstück eine reduzierte,
präzise Untersuchung über moralisches Handeln unter den Bedingungen
von Auschwitz. Seine Bilder, oft am Rande des Erträglichen, werfen die
Frage nach der Darstellbarkeit des Holocaust neu auf.
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in:
Zu
diesem Film gibt’s im archiv
der filmzentrale mehrere Texte
Die
Grauzone
The
Grey Zone
USA
2002. R und B: Tim Blake Nelson (nach dem Roman „Im Jenseits der Menschlichkeit
– Ein Geichtsmediziner in Auschwitz“ von Miklós Nyiszli). P: Pamela Koffler,
Christine Vachon, Tim Blake Nelson. K: Russell Lee Fine. Sch: Tim Blake Nelson,
Michelle Botticelli. M:
Jeff Danna. A: Maria Djurkovic. Ko: Marina Draghici. Pg:
Millenium/Killer Films/The Goatsingers. V:
b.film. L: 108. FSK: 16, ff. Da: David Arquette (Hoffman), Daniel Benzali (Schlemmer),
Steve Buscemi (Abramovics), David Chandler (Rosenthal), Alan Corduner (Dr. Nyiszli),
Harvey Keitel (Oberscharführer (Musfeldt), Mira Sorvino (Dina), Natasha
Lyonne (Rosa).
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