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Grenze
Ossis,
die deutsche Minderheit
Im
Dokumentarfilm »Grenze« werden ehemalige Grenzsoldaten vorgeführt.
Über Siegerjustiz und Verliererfilme.
In
der Edition Salzgeber gibt´s jetzt als VHS oder DVD einen instruktiven
77-Minuten-Dokumentarfilm über den Dienst in den Grenztruppen der DDR am
Eisernen Vorhang. Holger Jancke, gleich nach dem Anschluss Filmredakteur der
taz, brachte vier Menschen zusammen, die vor 17 Jahren, damals 20 Jahre alt,
in den Grenztruppen dienten. Wir sehen im Film talking
heads,
mittelalte Männer, die an den Spuren der Grenzanlagen vom ziemlich tristen
Innenleben der Grenztruppen berichten. Die Grenzkaserne gibt es noch, jetzt
sind Asylbewerber drin, und wohl fühlen sich alle nicht, von der Kamera
erfasst zu werden. Doch gute Miene machen die Asylheimer genau wie die vier,
die eingesetzt worden waren, die Grenze zu schützen.
Die
Statements geben mancherlei Aufschluss. Ja, ich bin interessiert, bleiben Sie
dran. Etwas steif geht es dabei zu. Auskunftsfreude hätte ich auch nicht
erwartet, aber warum winden sich die vier vor der Jancke-Kamera, um die rechten
Worte für ihr Tun zu finden? Sie sehen sich moralischen Vorwürfen
ausgesetzt, auch dem, kriminell zu sein. Sie bitten um Verständnis dafür,
dass sie gegen den »Schießbefehl« gar nichts machen konnten;
sie seien ja so jung gewesen; Erbarmen! – Ich fand´s auch erbärmlich,
aber jetzt meine ich den Dokumentarfilmer Jancke, wie er die vier, die er eingeladen
hatte, dazu bringt, sich ständig rechtfertigen und entschuldigen zu müssen.
Wenn das eine Demütigung ist, um das neue Wort zu gebrauchen, so ist der
»Schießbefehl« das Befragungswerkzeug.
Schießbefehl
– das ist eine westdeutsche, gegen die DDR polemisierende Bezeichnung für
die Bestimmungen über Schusswaffengebrauch für das Kommando Grenze
der Nationalen Volksarmee gemäß dem Gesetz über die Staatsgrenze
der DDR (Grenzgesetz) im Paragraf 27. Vom »Schießbefehl« ist
jedoch nicht die Rede, wenn es um den Bundesgrenzschutz geht, obgleich die Regelung
des Schusswaffengebrauchs in der BRD mit der der DDR nahezu identisch ist (Paragraf
11 »Schusswaffengebrauch im Grenzdienst«, geregelt im BRD-Gesetz
über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt
durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwG)). Alles o.k. im Westen.
Machen
wir die Probe. Ein Film über vier Bundesgrenzschützer, die heute über
ihren Dienst vor 1989 reden? Können wir uns vorstellen, dass die sich schämen,
sich schuldig fühlen, gedemütigt werden? Wir können nicht. Also
werden schießende Grenzschützer der BRD vom Gesetz geschützt,
nicht aber solche der DDR? So ist es. Der Rechtsschutz durch das DDR-Gesetz
ist ihnen mit der Wende genommen. Für die Ostländer gilt anderes Recht
– übrigens in vielerlei anderer Hinsicht auch.
Wundert
sich jemand, dass die Minder-Ossis sich benachteiligt fühlen und allmählich
ihr Minderheitenrecht einklagen müssten? Zwar hat die BRD sich längst
juristisch abgesichert. Die höchsten Gerichte haben nicht erkennen können,
dass verschiedene Maßstäbe angelegt werden und gleiches ungleich
behandelt werde. Die westdeutsche Argumentation und Jurisdiktion verstärkt
jedoch das Ost-Gefühl, vom Westen überfahren und ohnmächtig liegen
gelassen worden zu sein. Ein Gefühl, wie es dem West-Leser von William
S. Burroughs nur zu vertraut ist. In »Naked Lunch« sagt ein Richter
zum anderen: »Lassen Sie Gerechtigkeit walten, und wenn das nicht geht,
bleibt ja immer noch die nackte Willkür.« Ordre
public,
öffentliche Ordnung heißt das hier vornehm. Ich hab mich schon in
meiner Doktorarbeit (»Die Behandlung des Rechts der DDR in der Rechtsprechung
der Bundesrepublik«) darüber geärgert.
Geschrieben
hatte ich die Dissertation 1963. Damals war Hans Fricke, Kommandeur der Grenztruppen
der DDR, bei der 11. Grenzbrigade in Meiningen eingesetzt. Er gehört zu
denen, die ihren Ärger über die Ungleichbehandlung im Nachwendedeutschland
artikulieren – in wohlgesetzten Worten und in einem fundierten Buch: »Davor
– Dabei – Danach«, erschienen 1999 im GNN-Verlag (Gesellschaft für
Nachrichtenerfassung und Nachrichtenverbreitung), Schkeuditz. Das informationsreiche
Buch gibt detailreich und ausgesprochen sachlich Auskunft über das Innenleben
der Grenztruppen: über politische Schulung und Erziehung, die Polit-Organe
der Grenztruppen, Parteiaufbau und Parteiarbeit, Militärstaatsanwaltschaft
und die Zusammenarbeit mit der Sowjetarmee. Dem Dienst in einer Grenzkompanie
und den Schusswaffengebrauchsbestimmungen ist ein Kapitel gewidmet. Im Anhang
finden sich die eng verwandten Gesetzestexte von DDR und BRD.
Während
der Film »Grenze« damit wirbt, zum ersten Mal über das Innenleben
der Grenztruppe zu berichten, liegt ein umfassendes Druckerzeugnis dazu schon
seit Jahren vor. Es hapert an der Aufmerksamkeit in den Westländern. Es
scheint, es ist hier minder wichtig, wenn es im Osten gesagt wird.
Ich
bin im Westen, und mich bringt die verdammte Westheuchelei auf. Für einen
Juristen ist die Gesetzessprache die gleiche. Und ich hätte auch im Osten
Dienst tun müssen, wenn ich dort gelebt hätte. Ich war zwar nicht
bei der DDR-Militärstaatsanwaltschaft, wohl aber bei einer BRD-Staatsanwaltschaft
zur Aufklärung von Naziverbrechen. Ich war zwar nicht ehemaliger Kommandeur
der Grenzschutztruppen, wohl aber Kommandeur des Friedenskreuzes der ehemaligen
alliierten Widerstandskämpfer in Europa, wobei es sich um einen im Osten
feierlich verliehenen Antifaorden handelt. Mir gelingt es einfach nicht, die
Kollegen/Mitarbeiter moralisch zu diffamieren und zu kriminalisieren. Politisch
haben wir uns sowieso in den Haaren gehabt.
Mir
müsste auch jemand erklären, warum es, wenn man in der DDR lebt, ganz
schlimm ist, wenn man dem Ministerium für Staatssicherheit was erzählt,
hingegen, im Westen, völlig o.k., wenn man den Militärischen Abschirmdienst
(MAD) informiert. Jedenfalls kam Anfang der sechziger Jahre ein solcher MAD-Mann
in die Hamburger Wohnung. Er schwitzte und wollte was über meinen Freund
Dingsda wissen, der sich gerade um eine Stelle beim Bonner Ministerium für
Verteidigung bewarb. Wir beide hatten damals für die Andere Zeitung geschrieben,
die im Ruf stand, von der DDR subventioniert zu werden. Tja, brenzlig? Iwo.
Der feuchte Beamte bedeutete mir, dass er extra von Kiel nach Hamburg gekommen
sei, Dienstreise, dann blinzelte er mir zu: »Und der Dingsda, wie hält
er es denn mit den kleinen Mädchen, he?« Ich sagte: »Er hält
sie fest.« Er war befriedigt, lachte, und mein beamtengeiler Freund blieb
lebenslang im Bonner Beschaffungsamt.
Dingsda
wusste hinwiederum nichts von meinem anderen Freund und dass der ihm nahe war.
Mit Dieter Popp war ich in den sechziger Jahren dick befreundet. Jaja, 68er.
Aber in diesem Jahr trennten sich unsere Wege. Dieter wurde Spion im Bonner
Verteidigungsministerium, ich Dezernent der Hamburger Staatsanwaltschaft. Alles
im Jahr 1968. Dieter wurde Aufklärer für die Nationale Volksarmee
und führte als Resident den Mitarbeiter im Planungsstab des Bundesministeriums
für Verteidigung, Egon Streffer, von 1969 bis 1989. Der Planungsstab war
unmittelbar dem Minister nachgeordnet. Beide waren zwei Jahrzehnte lang Spitzenquellen
des Militärischen Nachrichtendienstes der NVA.
Nach
1989 saß Dieter dafür sechs Jahre im Knast, als Spion, sagte die
Weststaatsanwaltschaft. Als Kundschafter des Friedens, sagt Dieter. Es dauerte,
bis Dieter und Dietrich sich wieder umarmen konnten.
Die
Ostspione waren Kriminelle geworden, die Westspione kamen zu Ehren. Wieder war,
wie beim Schießbefehl, das Grundrecht der Gleichbehandlung, garantiert
im Grundgesetz, verletzt, und ich brachte das, was Burroughs die nackte Willkür
nannte, in diesem Jahr in der Juli-Nummer von Isor aktuell zum Ausdruck, womit
ich auf das Mitteilungsblatt der Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen
Rechte ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung
der DDR aufmerksam mache.
Auch
die Initiativgruppe »Kundschafter des Friedens fordern Recht«, der
Dieter Popp vorsitzt, wehrt sich zu Recht. Der Kriminalisierung liegt eine westdeutsche
Rechtsanwendung zu Grunde, die allen bis dahin geltenden Rechtsgrundsätzen
Hohn spricht. Denn fremde Gesetze, wie die der DDR, sind im Rahmen ihres Kontextes
(Praxis, Auslegung, Zielvorstellung) auszulegen. Das geschieht auch nach der
reinen Lehre. Nicht aber, soweit es die DDR resp. die Ostländer betrifft.
Wie gesagt: Es waltet die nackte Willkür. Umso mehr ist anzuerkennen, dass
die Betroffenen sich nicht darauf beschränken, die Demütigungen zu
beklagen, sondern sich zu den Zielen, die sie verfolgt haben, offensiv bekennen.
Das geschieht in dem zeitgeschichtlich einzigartigen Buch »Kundschafter
im Westen. Spitzenquellen der DDR-Aufklärung erinnern sich«, herausgegeben
von den Obersten des MfS in der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), Klaus
Eichner und Gotthold Schramm. Erschienen ist es in der Edition Ost, Berlin 2003.
Die beiden Chefs, die die HVA hatte, die MfS-Generäle Markus Wolf und Werner
Großmann, danken im Vorwort auch der Poppschen Gruppe für das Gelingen
des Werks. Man kann es nur mit heißem Kopf lesen. Imponierend ist das,
was Ernst Bloch den aufrechten Gang der Kundschafter genannt hätte. HVA-Innenleben
pur. Aber wie kam unser ehemaliger taz-Redakteur auf die Idee, seine Ex-Grenzer
im Film »Grenze« in die moralische Defensive und ins »Schießbefehl«-Gestottere
zu bringen? Weil er das getan hat, was im Westen getan wird – von der Justiz
bis zum Stammtisch –, nämlich an die Ossis Westmaßstäbe anzulegen
und sie aus ihrem Kontext zu lösen. Was da herauspräpariert wird,
ist sterilisiertes Innenleben. Doch einer wie der Kundschafter Dieter Popp lebt,
er ist kein Mindermensch, und Ossis in die Minderheitenecke zu stellen, ist
eine Art Abschiebedenken. In den Köpfen der Westländler ist sie längst
wieder eingebaut, die Grenze.
Dietrich
Kuhlbrodt
Dieser
Text ist zuerst erschienen in der Jungle World
Grenze
Deutschland
2003 - Regie: Holger Jancke - Darsteller: Dirk Bojanowski, René Longin,
Siegfried Mücke, Thomas Wolf, Thomas Rataj, Holger Jancke - Start: 11.11.2004
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