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Die große Stille
Filme
und arbeite!
Kino als Kloster, Stille als
Spektakel: Philip Grönings gewaltiger Dokumentarfilm „Die große Stille“
erzählt konzentriert vom Leben in einem Karthäuserstift, glaubt selber
aber vor allem ans Lichtbild.
Seit einigen Wochen schon zieren
Wien großflächige Plakate, die in einer Werbekampagne für „Die
große Stille“ gute Figur machen würden – oder auch in einem päpstlichen
Feldzug zur sinnlichen Re-Evangelisierung Europas. Österreichs Klöster
und Stifte werden dort in schwarzer Schrift auf weißem Grund als „offizieller
Sponsor von Einkehr und Meditation“ angepriesen. Formale Schlichtheit und leise
Innerlichkeit als Teil eines spirituellen Wohlfühl-Erlebnisses – das passt
recht gut zur Besinnlichkeits-Rhetorik, mit der „Die große Stille“ derzeit
in Pressetexten als filmgewordenes Exerzitium beworben wird: Über zweieinhalb
Stunden Aufnahmen aus dem Alltag eines Schweigeordens – ohne Off-Kommentar,
ohne Hintergrundmusik, ohne zusätzliche Beleuchtung. Stattdessen Video-
und Super8-Bilder, die manchmal dunkel und grieselig sind bis an den Rand der
Entzifferbarkeit, und eine Tonspur, auf der Wassertropfen und knirschender
Schnee zu Großereignissen werden.
Schon die Produktionsgeschichte
liest sich wie eine Lektion in Demut: 19 Jahre musste Regisseur Philip Gröning
warten, bis er die (historisch erstmalige) Dreherlaubnis in der „Grande Chartreuse“,
dem französischen Mutterkloster des rigiden Karthäuser-Ordens, bekam
– unter der Bedingung, dass er die Aufnahmen innerhalb des Klosters alleine
drehen und für die Dauer seines sechsmonatigen Aufenthalts nach den Regeln
des Ordens leben und arbeiten müsse.
Was sich auf dem Papier nach einer
Mischung aus chinesischer Wasserfolter und katholischer Indoktrination anhört,
ist in der Kino-Praxis allerdings eine der spannendsten und schönsten filmischen
Versuchsanordnungen, die dieser Tage zu sehen sind. Tatsächlich ist „Die
große Stille“ weniger ein Klosterfilm denn ein Film-als-Kloster, aber
nicht im Sinn eines Regimes weltabgewandter Einkehr nach strengem Regelwerk.
Was Gröning in seinem 162-minütigen Dokumentarfilm gelingt, ist eine
genuin filmische Übersetzung der Raum- und Zeitordnung des Klosterlebens.
Die kommentarlose Montage aus Arbeitsvorgängen (vom Schneeschaufeln bis
zur Administration am PC), wiederkehrenden Ess- und Mess-Ritualen und spärlicher
Freizeit zielt weniger darauf ab, die Organisation des Stiftes transparent zu
machen, als einen bestimmten Zustand zu vermitteln, eine bestimmte Art des In-der-Zeit-Seins.
Wie es sich wohl anfühlt, jahrelang Tag für Tag am selben Ort im gleichen
Rhythmus zu arbeiten und zu beten, was das für Gedanken und Haltungen erzeugt,
davon lässt sich in „Die große Stille“ einiges erspüren: Nicht
als gottesfürchtiges Sinnangebot und mahnendes Vorbild fürs eigene
Leben, sondern als Ahnung von all den nicht realisierten Lebensformen, sozialen
Ordnungen und Habitusformen, die jenseits der bestehenden Verhältnisse
möglich wären. Wie sich unlängst in Nikolaus Geyrhalters „Unser
täglich Brot“
die europäische Nahrungsmittelindustrie vor unseren Augen zur abgefahrensten
Science Fiction-Technologie verwandelte, so wird das unbeirrbar vor sich hin
schuftende Mönchskollektiv in seinem Kloster in den französischen
Alpen unter Grönings insistierendem Kamerablick zur fremdest möglichen
Lebensform – um dann Augenblicke später beim gemeinsamen sonntäglichen
Spaziergang wieder irritierend „normal“ zu wirken.
Als narratives Grundgerüst
bieten sich anfangs scheinbar die Novizen an, die zu Beginn des Films aufgenommen
werden. Aber auch sie werden vom gleichförmigen Bilderfluss des Klosterlebens
bald verschlungen und treiben nur ab und zu wieder an der Bildoberfläche
vorbei. Die einzige beständige zeitliche Orientierungshilfe ist der allmähliche
Wechsel der Jahreszeiten und Lichtverhältnisse. Das gelegentliche Abdriften
des Zuschauers ist dabei offensichtlich ein durchaus einkalkulierter Effekt
der Montage: Die zyklische Wiederholung von Ritualen (wie beispielsweise den
stockdunklen Nachtmessen) macht die Dramaturgie der Tagesabläufe nicht
nachvollziehbarer. Jedes Mal droht man wieder, im trägen Zeitkontinuum
aus weltlichen und geistlichen Verrichtungen zu versinken.
„Die große Stille“ ist kein
frommer, kulturpessimistischer Gegen-Film zu jenen ach so schnelllebigen Zeiten,
da die bösen Hollywood-Häretiker mit dem „Da Vinci Code“ sogar die Restbestände katholischen Glaubens zum kulturgeschichtlichen
Themenpark auswerten. Vielmehr passt Grönings Bilderfluss selbst gar nicht
so schlecht in die Gesellschaft aktueller Blockbuster, widmet er sich doch auch
der konsequenten Erschließung von Kino als sinnlichem Erlebnisraum. Sein
ganz und gar auf raumzeitliche Einfühlung, taktiles sound design und körperliche Präsenzen
ausgerichtetes Filmkloster könnte im selben Häuserblock stehen wie
die kathartischen „Panic Rooms“ („Poseidon“), Action-Kraftkammerspiele („16 Blocks“) oder touristischen
Themenwelten („Mission: Impossible III“) des Kinofrühsommers. In dieser Hinsicht lässt sich
eine der letzten Einstellungen von „Die große Stille“ als veritables Action-Finale
lesen: Aus der Ferne kann man beobachten, wie eine Gruppe Mönche ausgelassen
Schlitten fährt.
Joachim Schätz
Dieser Text ist
zuerst erschienen im: falter (Wien), www.falter.at
Die große Stille
Deutschland 2005 - Regie: Philip Gröning - FSK: ohne Altersbeschränkung
- Länge: 162 min. - Start: 10.11.2005
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