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Haie
der Großstadt
Pyrrhussiege
und wirkliche Siege
Am
Billardtisch scheint es zuzugehen wie im Leben. Die Kugel wird angestoßen,
treibt die anderen in nicht vorhersehbare Positionen. Einige rollen vielleicht
ins Loch, andere kommen zum Stillstand, irgendwo. „Fast“ Eddie (Paul Newman)
ist so ein Spieler, einer, der von sich selbst dermaßen überzeugt
ist, der beste Pool-Spieler auf der Welt zu sein, dass kein Zweifel daran sein
darf und kann. Für „Fast“ Eddie Felson gibt es im Leben nur eines: Pool-Billard.
Alles andere ist Zwischenstation, Warten auf dem Bahnhof seines Lebens, zwischen
zwei Spielen, die sich endlos hinzuziehen scheinen, manchmal über einen
ganzen Tag.
Robert
Rossen (1908-1966) („Lilith“, 1964, mit Warren Beatty, Jean Seberg und Peter
Fonda; „Landung in Salerno“, 1945, mit Dana Andrews, Richard Conte und Lloyd
Bridges) erzählt die Geschichte eines menschlichen Raubtieres, der in gewisser
Weise doch nur ein Papiertiger ist, eines Mannes, der siegen will und sich selbst
und anderen immer wieder verdeutlicht, dass er ein Sieger(typ) ist. Eddie kann
spielen, weiß Gott. Er kann mit der Kugel tun und lassen, was er will,
meistens. Aber da gibt es auch noch die andere Seite von Eddie Felson, die sich
im Alkohol manifestiert, in der Hybris des Siegers dokumentiert.
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I N H A L T •
Rossen
zeigt Eddie zu Anfang, wie er einen Billard-Raum betritt, sich in den Mittelpunkt
rückt, mit seinem Lächeln, das charmant und überheblich zugleich
ist. Eddie wartet auf einen anderen großen Spieler, auf Minnesota Fats
(Jackie Gleason). Minnesota ist ein ruhiger, selbstbeherrscher Mann, wohlbeleibt,
elegant in Anzug und Weste gekleidet. Vor jedem Spiel und nach jedem Spiel reibt
er sich die Hände mit Puder ein. Minnesota ist präsent, aber anders
als Eddie hat er es nicht nötig „aufzutreten“. Minnesota kommt, um zu spielen,
er spielt des Spieles wegen, des Reizes, die Kugel zu beherrschen, sich zu messen,
egal, ob er gewinnt oder verliert. Minnesota kann verlieren und er kann siegen.
Eddie nicht. Eddie muss gewinnen. Eine halbe Stunde Film dauert dieser Wettstreit
zwischen Eddie und Minnesota, die 25 Stunden am Stück spielen. 18.000 Dollar
gewinnt Eddie – und verliert sie wieder. Am Ende bleibt er mit 200 Dollar zurück.
Beide trinken Whiskey. Doch Minnesota weiß nicht nur, um was es geht –
nur um ein Spiel, das Freude macht –, Minnesota weiß auch, wie man Whiskey
trinkt. Er trinkt ihn, schätzt ab, wie viel er vertragen kann. Eddie schüttet
ihn in sich hinein.
Diese
beeindruckende Anfangsszene wirkt wie eine Art Ouvertüre zu einem Drama,
dessen Tragik sich dann gnadenlos fortsetzt. Noch andere sind im Raum. Charlie
(Myron McCormick), Eddies Partner, der ihn stoppen will, der ihn fast schon
bettelnd drängt aufzuhören. Schließlich habe Eddie genug Geld
gewonnen. Eddie will weiter spielen. Er will nicht nur gewinnen. Er will Minnesota
vernichtend schlagen, ihn am Boden zerstören. Zum Schluss ist es Eddie,
der mit nichts da steht. Ein anderer schaut dem Treiben zu: Bert Gordon (George
C. Scott), ein Mann, der nur eines kennt: Geld und Geldmachen. Gordon beobachtet
Eddie, hautnah, sieht, wie er verliert. Und Gordon hält Eddie – ob er nun
ein Spiel gewinnt oder verliert – für einen Loser, einen Mann ohne Charakter.
Gordon ist ein skrupelloser Geschäftemacher, smart und eiskalt. Er will
Eddie, gerade weil er ihn für einen Verlierer hält, für sich
einspannen, macht ihm nach der Tortur des Spiels mit Minnesota Fats das Angebot,
für ihn zu arbeiten, zu spielen. Als Eddie ablehnt, lässt Gordon ihm
durch zwei seiner Handlanger die Daumen brechen – eine Katastrophe für
einen Billardspieler.
Noch
jemand tritt in das Leben von Eddie, eine Frau, die er in einem Café
kennen lernt. Angeblich wartet sie auf den Bus. Aber Sarah Packard (Piper Laurie)
befindet sich in einer anderen Art Wartezustand. Sie wartet darauf, dass irgend
etwas in ihrem Leben geschieht. Sarah trinkt, und das nicht zu knapp. Zweimal
die Woche, erzählt sie Eddie, gehe sie zu einer Ausbildung. Sarah wirkt
ruhig, fast schläfrig bewegt sie sich durch ihr Leben, dem sie keine Bedeutung
(mehr) abgewinnen kann. Sie ist depressiv, ertränkt ihre Verzweiflung und
sich selbst in Whiskey. Irgend etwas an Sarah zieht Eddie an. Er bringt sie
nach Hause, will mit ihr schlafen, und Sarah antwortet ihm: „Warum gerade ich?
Du bist mir zu hungrig.“ Aber auch sie findet Gefallen an Eddie, vor allem aber
glaubt sie, jemanden zu brauchen, der ihr ihre Verzweiflung lindert. Sarah schläft
mit Eddie, sie fühlt sich zu ihm hingezogen und stößt ihn wieder
von sich: „Ich stecke in Problemen und ich glaube du hast auch deine Schwierigkeiten.
Vielleicht wäre es besser, wenn wir mit unseren Problemen allein bleiben.“
Sarah,
die Eddie anfangs nur benutzt, oder es zumindest versucht, beginnt, sich in
Eddie zu verlieben. Sie beschwert sich darüber, dass beide zwar miteinander
schlafen, aber nicht miteinander reden. Sie spürt etwas in sich, dass ihr
Leben kurzfristig verändert. Als Eddie mit gebrochenen Daumen zu ihr kommt,
sorgt sie sich um ihn, obwohl sie kaum für sich selbst sorgen kann. Eddie
spürt dies. Er fühlt, wie sich Sarah ihm zuwendet. Sie sagt ihm, dass
sie ihn liebt, und er antwortet: „Was erwartest du von mir?“ Eddie darf sie
nicht lieben, denn er liebt sich selbst nicht. Er verbietet sich, Sarah zu lieben.
Seine egozentrische Schwäche, die er nach außen als Stärke und
Sieg verkaufen will, hindert ihn daran, diese Frau zu lieben.
Eine
Katastrophe bahnt sich an, langsam, aber sicher, zunächst kaum spürbar,
als Eddie das Angebot Gordons akzeptiert, für ihn zu spielen – gegen einen
beträchtlichen Anteil für Gordon am Gewinn, versteht sich. Gordon
merkt mit seinem eiskalten Verstand sofort, welche Gefahr Sarah für seine
finsteren Absichten darstellt, Eddie für sich einzuspannen, wie ein Pferd
oder einen Windhund für ein Wettrennen. Sarah repräsentiert für
einen Moment die Liebe, die Sorge, den Schutz – und das kann Gordon nicht gebrauchen.
Eddie entfernt sich immer weiter von Sarah, geht auf im Kalkül des skrupellosen
Geschäftemachers ...
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I N S Z E N I E R U N G •
Rossen
gelang mit „The Hustler“, also „Der Strichjunge“, (der deutsche Titel „Haie
der Großstadt“ ist eine mittlere Katastrophe) ein grandioses Drama – übrigens
Platz 140 in den Top 250 der Internet Movie Database –, in dem es nur vordergründig
um Pool-Billard geht. Eddie geht tatsächlich auf dem Strich. Er verkauft
sich, schon bevor er sich in das Spinnennetz Gordons begibt. Er verkauft seine
Schwächen, die er nicht anders überwinden kann, indem er sie nach
außen kehrt und umkehrt: Sieg um des Sieges willen. Die seelische Niederlage
seines Lebens, woher sie auch kommen mag, münzt er um in eine schier größenwahnsinnige
Siegerpose. Seine Siege aber sind Pyrrhussiege. Minnesota Fats ist Eddies Gegenstück.
Eddie lacht, belächelt den dicken Mann, wenn der sich während des
Spiel-Marathons zwischendurch wäscht, kämmt, die Hände einreibt
und seinen Anzug in Ordnung bringt. Es ist ein hämisches, erniedrigendes
Lächeln, das Minnesota jedoch nicht aus der Ruhe bringen kann. Denn Minnesota
hat das, was Eddie fehlt: inneres Gleichgewicht und Macht über sich selbst.
Sarah
verliert den Kampf um sich selbst und den Kampf um Eddie. Gordon setzt sich
durch. Und erst am Schluss wird Eddie bewusst, wie sehr er Sarah geliebt und
wie sehr er sich dagegen gewehrt hat. Erst jetzt kann er Gordon als Mensch gegenübertreten
und ihn in seine Schranken weisen. Rossen zeigt diesen Kampf zwischen zwei Welten,
der Welt der Macht und des Geldes und der Welt der Liebe, in einer Weise, der
man sich nicht entziehen kann. Die Bilder Eugen Schüfftans und der Schnitt
Dede Allens tun ein übrigens, um den Film zu einem feinfühligen, großartigen
Drama werden zu lassen.
Rossen
lässt vier Menschen so unterschiedlicher Art – Eddie, Minnesota, Gordon
und Sarah – aufeinander treffen und entwickelt in beispielhafter Weise deren
charakterliche Züge. Alle Figuren sind einem nahe, Jackie Gleason, der
als Minnesota den Raum betritt und ihn beherrscht, ohne jemand zu beherrschen,
ist grandios (er wurde für seine Rolle für den Oscar nominiert, bekam
ihn aber leider nicht). Paul Newman und George C. Scott (man erinnere sich an
seine Rolle als General Turgidson in Kubricks „Dr.
Strangelove“,
1964) sind in einer überwältigenden Feinheit aufeinander abgestimmt.
Und dann sehen wir Piper Laurie, eine Schauspielerin, die die ganze Tragik der
Sarah Packard, ihre depressive Stimmung, ihre Wortgewandtheit, ihre Liebe, ihre
Zärtlichkeit, ihre Verzweiflung derart beeindruckend darstellen kann, dass
man nur noch staunen kann – vor allem im Vergleich zu vielen gegenwärtigen
Filmen, in denen auf Charakterdarstellung oft nur wenig Gewicht gelegt wird.
Newman
musste übrigens kräftig Billard üben. Dabei half ihm der damalige
Champion unter den amerikanischen Billardspielern, Willie Mosconi, der in einer
Nebenrolle im Film zu sehen ist.
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F A Z I T •
Sieg
und Niederlage können zweierlei bedeuten. Einmal sind sie Ausdruck eines
sportlichen Wettkampfs, in dem es um nichts geht als um das Spiel, in dem Sieger
und Verlierer sich am Schluss die Hand reichen und beide Glück empfinden,
weil weder Sieg noch Niederlage katastrophal sind. Hier geht es nicht um Vernichtung,
um Erniedrigung, sondern um das Spiel des Spieles wegen, um gegenseitiges Vertrauen
und wechselseitige Anerkennung. Andererseits können Sieg und Niederlage
eben Ausdruck einer auf andere und nach außen projizierten inneren Schwäche
sein. Wer seine fehlende Macht über sich selbst kompensieren will, indem
er Macht über andere auszuüben versucht, erntet Pyrrhussiege, bei
denen aber eben auch andere auf der Strecke bleiben. „The Hustler“ gewinnt in
dieser Hinsicht zusätzlich Bedeutung, wenn man weiß, dass Rossen
Anfang der 50er Jahre einer derjenigen war, die durch McCarthy und seinen Ausschuss
gegen „unamerikanische Umtriebe“ als Kommunist verdächtigt und verfolgt
wurde. „The Hustler“ ist insofern auch ein Spiegelbild (allerdings in einem
weiten Sinne nicht nur) der amerikanischen Gesellschaft, in der äußere
Siege, die mit triumphalem Gepolter gefeiert werden, die innere Schwäche
einer Gesellschaft dokumentieren, in der Macht und Geld zu Kennzeichen eines
zersetzten Sozialgefüges geworden sind.
Wertung:
10 von 10 Punkten.
Ulrich
Behrens
Dieser
Text ist zuerst erschienen, unter dem Namen Posdole, bei:
ciao.de
Haie
der Großstadt
(The
Hustler)
USA
1961, 134 Minuten
Regie:
Robert Rossen
Drehbuch:
Sidney Carroll, Robert Rossen, nach dem Roman von Walter Tevis
Musik:
Kenyon Hopkins
Director
of Photography: Eugen Schüfftan
Schnitt:
Dede Allen
Produktionsdesign:
Harry Horner, Gene Callahan
Hauptdarsteller:
Paul Newman („Fast“ Eddie Felson), Jackie Gleason (Minnesota Fats), Piper Laurie
(Sarah Packard), George C. Scott (Bert Gordon), Myron McCormick (Charlie Burns),
Murray Hamilton (James Findley), Michael Constantine (Big John), Stefan Gierasch
(Prediger), Clifford A. Pellow (Turk Baker), Jake LaMotta (Barkeeper), Gordon
B. Clarke (Kassierer)
Offizielle
Homepage: –
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/Title?0054997
Weitere
Filmkritik(en):
„Chicago
Sun-Times“ (Roger Ebert):
http://www.suntimes.com/ebert/ebert_reviews/2002/06/062301.html
„Movie
Reviews“ (James Berardinelli):
http://movie-reviews.colossus.net/movies/h/hustler.html
©
Ulrich Behrens 2003 für
www.ciao.com
www.yopi.de
www.dooyoo.de
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