Hannibal
Gefledderte Lämmer
»Hannibal« ist eine belanglose Oper mit Frankensteinmasken und
einem unkomplizierten Killer-Softie.
In den Kinos startet »Hannibal« am heutigen 15. Februar, drei
Tage, nachdem er auf der Berlinale gezeigt wurde, dort im
Wettbewerbsprogramm außerhalb des Wettbewerbs. Die Festspiele als
Startrampe für den Kinoeinsatz (Kosslick), - grade das sieht der
designierte Festivalleiter als alten Zopf. Aber man kann verstehen,
daß der Filmvertrieb sich mit diesem altehrwürdigen Requisit
schmücken möchte, denn so nackt und bloß möchte man denn wohl doch
nicht den Zuschauern unter die Augen kommen. Haben die Produzenten
Angst? Sie setzen auf Kunst, Repräsentanz (Festival) und
Hochkultur, um einige deftige Schocks und Splatterszenen
unterzubringen, die im Design einer Antiquitätenmesse ihren Stand
haben. Ich habe nichts gegen Splatter im Splatterfilm, im
Gegenteil. Wohl aber etwas gegen 132 Minuten schicke Kunst.
Isoliert darin ein halbes Dutzend Effekte; dann gibt's ein Raunen
im Publikum, aber ich wette: Die Zuschauer sind es nicht, die Angst
bekommen. - Eine Einschränkung muß ich machen: Ich sah den Film in
der Originalversion, und ob die sechs Schocker in der deutschen
Fassung drin sind, weiß ich nicht. Der Verleih hätte den Film
sicherlich gern ab 16 freigegeben gehabt, genau wie damals vor zehn
Jahren »Das Schweigen der Lämmer«, gleichfalls mit Anthony Hopkins
in der Rolle von Dr. Hannibal Lecter.
Hannibal-the-Cannibal war damals wegen seiner Neigung,
ungebratenes Menschenfleisch zu verzehren, hinter Gittern,
jedenfalls überwiegend. Als genialer Psychiater und Menschenkenner
konnte er jedoch der Strafverfolgerin Jodie Foster von Nutzen sein.
So war es zu einem sehr ambivalenten Deal gekommen: Jodie konnte
den transvestitischen Serienkiller Buffalo Bill aufspüren, und
Anthony Hannibal gelangte in das Innerste der inneren Psyche einer
Frau, die von der Osterlammschlachtung traumatisiert war. Der
Hannibal von 1991 war alles Mögliche gewesen: Kannibale,
Krimineller, Justizgehilfe, Genie, Mann, Autorität, Held; wie er
seine diversen Identitäten ins Spiel bringen konnte, das war die
schiere Faszination. Total gerecht, daß das Match mit Jodie Foster
im Patt endete. Der Film bekam seinerzeit einen halben Silberbären
auf der Berlinale, und Anthony Hopkins wurde am britischen
Königshofe geadelt.
Wir haben jetzt 2001, und mit Hannibal ist leider alles klar. Der
Film ist nicht von J. Demme, sondern von Ridley Scott. Und wir
werden nicht mehr vom Bösen verlockt, das Jodie Foster doch so
dringend gebrauchen konnte. Nichts mehr von der
amerikanisch-psychoanalytischen Version des Pakt-mit-dem-Teufel.
Die große Faszination ist weg. Und das ist irgendwie wohl gut so.
Aber etwas langweilig auch. Deswegen die Effekte, auf die »Das
Schweigen der Lämmer« grade nicht gesetzt hatte.
Jodie-Foster-Nachfolgerin Julianne Moore hat nicht ein
sprechendes, sondern ein nichtssagendes Gesicht. Jetzt ist sie nur
noch das Übliche: eine Polizistin, die einen Verbrecher jagt, eben
Dr. Lecter, der sich selbst resozialisiert hat und unter falschem
Namen in der Kunst- und Kulturstadt Florenz einen hochgeachteten
Beruf in der Antikensammlung des Palacio Vecchio ausübt. Das geht
aber nicht. Wo bleibt die Gerechtigkeit? Auch Multimillionär Gary
Oldman will sich rächen; steinreich sitzt er in seinem Palais, aber
leider auch im Rollstuhl, und das in einer Maske, wie wir sie vom
Musical kennen, dem Phantom der Oper. Oder von Frankenstein, wenn
Haut transplantiert und zusammengenäht wird. Das gibt manche
Großaufnahme, Effekte minderer Art, denn wir haben niemals das
Gefühl, das Theater verlassen zu haben. Requisite, Maske, Sfumato,
Walzer und diverses Klassisches: Alles vom Besten, alles was Kunst
bieten kann.
Die ein Jahrzehnt alten Ambivalenzen reduzieren sich auf die
Frage: Kriegt sie ihn? Oder er sie? Wobei sich Dr. Hannibal Lecter,
eventuell senil geworden, als wenig genialer Heterotyp entpuppt.
Statt der faden Strafverfolgerin die Nase abzubeißen, wozu er mehr
als eine Gelegenheit gehabt hätte, versorgt er eigenhändig eine
Wunde, die er ihr unbedacht zugefügt hatte, und näht ihr das
zusammen, was er vor zehn Jahren aufgerissen hätte (aber eben nicht
hatte; weil Regisseur Demme ihm mitnichten dazu Gelegenheit gab).
Hannibal als völlig unkomplizierter Killer-Softie - das ist das
Gegenteil vom hochkomplexen, brisanten und stringenten
Vorgängerfilm 1991. Was dort sich an kaum erträglicher Spannung
aufbaute, einem Albtraum von Angst und Faszination, das verflacht
2001 zu einer Folge von mehr oder minder interessierenden
Beliebigkeiten. Ehrlich, wie der Film ausgeht, hab ich schon
vergessen.
Wahrscheinlich tut man dem »Hannibal«-Film unrecht, ihn mit dem
Geniestreich »Schweigen der Lämmer« zu vergleichen und dann
abzukanzeln. Jedoch: Er beruft sich auf den Vorgänger und zehrt von
seiner Substanz. Polemisch formuliert, und das wäre ja das Beste
für ihn: Er macht sich kannibalistisch über die schweigenden Lämmer
her. Im opulenten Gepränge der Originalfassung sah ich den
Pawlowschen Schweinereflex: Menschenfressende Kampfschweine, die
auf weibliche Todesschreie dressiert werden, und, wer's mag, darf
sich als Opfer fühlen und der Großaufnahme in den Rachen sehen, die
Hauer rechts und links neben den eigenen Ohren. Schnapp! Fett das.
Oder? Oder ist das halt Klamauk, wenn dem Gast die Schädeldecke
aufgeklappt wird, um am Tisch ein wenig Hirn zu entnehmen, zu
braten und zu servieren. Wem? Dem nämlichen Gast. - Wenn der sich
selbst konsumierende Kannibalismus Sinn machen würde, wär's ja gut.
Aber er ist bloß Effekt.
Dietrich Kuhlbrodt
aus: Junge Welt
Zu diesem Film gibt es im filmzentrale-Archiv mehrere Kritiken.
»Hannibal«, Regie: Ridley Scott, USA 2000, 132 Minuten. (Berlinale-Wettbewerb außer Konkurrenz)