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Hannibal
Rising
Wollten Sie schon immer wissen, wie Hannibal Lecter
(„Das
Schweigen der Lämmer“, 1990)
zu dem wurde, was er geworden ist? Nein? Dann geht’s Ihnen wie mir, und das
ist okay, denn „Hannibal Rising“, der neue Film, ist zwar vom selben Autor (Thomas
Harris), aber im Übrigen bindet ihn nichts an den alten. Aus den Genres
des Psychothrillers und des Horrorfilms sind wir raus, auch raus aus den USA.
Stattdessen sind wir ganz bei uns, nämlich bei den Deutschen; bei der Waffen-SS
1944 in Litauen; bei uniformierten Kannibalen, die ein kleines Mädchen
fressen; und zehn Jahre später bei der Opferjustiz im Allgemeinen und im
Besonderen.
Neinnein, das gibt ein schiefes Bild, denn „Hannibal
Rising“ ist gepflegtes Drama der europäischen Art, gut durchkomponiert
in Bild und Ton, eine zivilisierte Partitur. Regisseur Peter Webber hatte zuvor
„Das
Mädchen mit dem Perlenohrring“
gedreht, dem holländischen Maler Frans Hals nachempfunden, Europa sank
vor diesem Film in die Knie. „Hannibal Rising“ ist komplexer, reicher und gleichzeitig
dichter, dicht am Dekorativen meine ich, aber auch dicht an der deutschen Filmgeschichte.
Ich sah die Originalfassung, gesprochen wird niveauvolles Oxfordenglisch. Um
so signifikanter wird es, wenn die SS-Verbrecher es auf deutsch singen: ein
Männlein steht im Walde ..., hat ein purpurrotes Mäntlein an ... –
Am deutschem Reim wird es gelingen, die Täter ausfindig zu machen, - genauso
wie 1930 den Kindermörder Peter Lorre in „M“ mit einem ähnlichen Lied. Übrigens schneidet
unser Held ein blutiges M in den frisch rasierten Oberkörper des Naziverbrechers.
Wir sind in der frühen Nachkriegszeit und bereits dem Charme des jungen
Hannibal Lecter erlegen, sym- und psychopathisch wie er ist, gespielt von dem
attraktiven Franzosen Gaspard Ulliel (zuletzt in der Gus-van-Sant Episode in
„Paris, je t’aime“), seine Selbstjustiz von 1952 entspricht ganz dem Schönheitsideal
von 2007.
Wir müssen aber zurück in die Vergangenheit,
denn „Hannibal Rising“ beginnt in den letzten Kriegsjahren und erzählt
chronologisch, dankenswerterweise ohne Rückblenden oder gar Vorgriffe auf
das, was Lämmer verschwiegen. Als, sagen wir, Achtjähriger streift
Hannibal, unversehrtes Kind, noch einmal, ein letztes Mal, durch den heilen
Wald, der die Burg der jüdischen Aristokratenfamilie umschließt.
Seine kleine Schwester, deren Vornamen mit M beginnt, Mischa, hält er an
der Hand. Ein Spinnennetz, groß, will uns etwas sagen, wir wissen noch
nicht was; ein Steg in den Weiher scheint nicht nur malerisch, sondern Warnung
zu sein. Die Bildmotive werden uns durch den Film begleiten. – Die Deutschen
lernen litauische SS an. Mit durchschlagendem Erfolg. Schon ist der Kopf des
Rabbi abgehackt. Die Eltern sind tot. Die Russen kommen und kümmern sich
um die Kinder. Ein Feuer wird gemacht, die Kleinen müssen es warm haben,
damit aber sind sie Beute der marodierenden litauischen SS-Leute, die sich auch
wärmen wollen, aber außerdem die kleine süße Mischa auffressen.
Acht Jahre später, Paris. Hannibal hat sich
zu Gong Li durchgeschlagen, der schönen Single mit Migrationshintergrund
(Japan). Sie lehrt ihn aristokratisches Benehmen, wie es nirgends besser als
im zivilisierten Frankreich kultiviert wird, plus in diesem Sonderfall die Kunst
des Samurai, mit Säbeln zu hantieren. Das Messermotiv führt dann sogleich
zu einem ausländerfeindlichen Metzger auf dem Markt, der Gong Li an den
Hintern fasst, grinst und fragt, ob ihre Muschi quer ist. Das wiederum führt
dazu, dass der Musterstudent Hannibal seine neuen pathologischen Kenntnisse
auf dickbäuchige, schmierige Subjekte anwendet, was wir gut verstehen,
wenn auch nicht vorbehaltlos billigen können, angesichts der Schneide,
die, unten an der Kehle angesetzt, oben aus der Schädeldecke rauskommt.
Und es geht auch nicht an, dass Hannibal sich aus seinen Opfern das Leckerste
(die Backen) herausbeißt, ganz wie es der kleinen Mischa angetan worden
war.
Wir begleiten ihn jetzt auf einem Rachefeldzug. Auge
um Auge, Zahn um Zahn, Wangenfleisch um Wangenfleisch. Und er findet alle, die
an den Gräueln in Litauen beteiligt waren. Opferjustiz. Ich sagte es schon.
Ist noch was dazu zu sagen? Der Film sagt viel dazu. Es ist sein Thema, und
es ist sein Verdienst. Frage: ist diese Selbstjustiz exemplarisch? Gong Li hat
ihrerseits ihre Familie verloren. In Hiroshima. Sinnt sie auf Rache? Aber nein;
doch die Opfer verstehen einander, sympathisieren, selbst der mitfühlende
Zuschauer des Films geht ein ziemliches Stück weit mit. Das lässt
sich auch vom französischen Kommissar sagen, der seinerseits Kriegsverbrecher
jagt und auf seine Kompetenzen achtet. Wir sind in den frühen fünfziger
Jahren, wohlgemerkt. Wie Hannibals Rache in Litauen aussieht oder in Kanada,
- egal. Aber in Frankreich: nicht.
„Rising Hannibal“ bringt zur Sprache, warum man die
Verfolgung der Justiz nicht überlassen kann. Wo blieben die Verfahren gegen
die französischen Gendarmen, die die Juden erfasst und in die Züge
nach Auschwitz getrieben haben? Wer steckte Barbie die Namen der Juden, die
er vergasen ließ? Wer fand sich damit ab, dass Kriegsverbrecher in Frankreich
sogleich wieder in Amt und Würden waren (Bürgermeister)? Oder in Litauen
Politfunktionär? – Konsequenz: einer wie Hannibal Lecter muss ran. Der
tut was. Wenn auch evtl. zu viel.
Man wird es dem Autor, dem Regisseur, der Produktion
(De Laurentiis) hoch anrechnen müssen, mit diesem Film unvermutet und deshalb
umso wirkungsvoller ein beschämendes und trauriges Kapitel der Nachkriegsgeschichte
aufgeschlagen zu haben, wobei dieses Kapitel keineswegs zu Ende gebracht (bewältigt)
wird. – Das Ich-finde-sie-alle des jungen Mannes wird plausibel auf die Schiene
des Ich-finde-mich-selbst gesetzt: auf die Erinnerungsarbeit, die ihn vom SS-Trauma
befreien und zur Tat ertüchtigen soll.
Sehr zu loben, dass der tiefenanalytische Ansatz
sogleich vom Hiroshima-Opfer Gong Li in Frage gestellt wird – ganz auf das Messermotiv
bezogen: Erinnerung ist, kann schneidend sein. Und dieser Zweifel, der freilich
nicht handlungsfähig macht, wird dann durch den opulenten Look des Films
konterkariert. Das dekorative Format, das vollendete Spiel von Licht und Schatten
(Kamera: Ben Davis), die exzellente, gar avantgardistische Verarbeitung der
Motive (Schnitt: Pietro Scalia), die makellose Eleganz und die sehr gegenwärtige
Präsenz von Gong Li und Gaspard Ulliel, schöne Menschen von heute,
- all das macht Einwände gegen die zusehends lustvollere Zelebrierung der
Gewaltexzesse zunichte – jedenfalls während der Dauer der Projektion. Hannibal,
der Motivierteste aller Pathologiestudenten, - Hannibal, der eloquente junge
Mann mit den besonders guten Manieren, - Hannibal, der Frauen- und Ausländerbeschützer
mit der korrekten Moral, - Hannibal also, der klug und souverän die innovativsten
Foltertechniken anwendet, um SS-Schweine zum Reden zu bringen, und sie dann
auf immer originelle Weise hinzurichten, nicht ohne vom Wangenfleisch genascht
zu haben, - Hannibal der einen Täter, der seinerseits zum Opfer wird, in
einem Wasserkessel ertränkt und ihm dabei zynisch ein Goodbye nachwinkt,
-- ja, was meinen Sie? Wer so was macht und mag, ist immer noch nicht sein Trauma
los und nach wie vor Opfer der SS-Kannibalen von 1944, nicht vergessen und nicht
vergeben. Wie der Film das herausbringt, ist ambivalent und schön.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: Konkret
Hannibal
Rising - Wie alles begann
Frankreich / Großbritannien / USA 2007 - Originaltitel: Hannibal Rising - Regie: Peter Webber - Darsteller: Gaspard Ulliel, Gong Li, Rhys Ifans, Richard Brake, Kevin McKidd, Helena Lia Tachovska - FSK: keine Jugendfreigabe, nicht feiertagsfrei - Länge: 121 min. - Start: 15.2.2007
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