Harry Potter und der Stein der Weisen
Die globale, mediendurchdrungene Gesellschaft hat zur Folge, daß sie
nicht nur Dinge wie ein kollektives Gedächtnis oder kollektive Schuld
hervorbringt, sondern ein kollektives Bewußtsein schafft, das einzig
zum Gedächtnis macht, was die Station dieses - medialen - Bewußtseins
durchlaufen hat. Deswegen sind auch andere Dinge wie Werbung und
Marketing in dieser Gesellschaft so wichtig, weil dies die (primären)
Wege sind, den Ort dieses Bewußtseins zu erreichen.
Und wenn dann ein Gegenstand diesen Ort durchläuft, erreicht es einen
Zustand, der mit der klassischen Erkenntnis zu identifizieren ist, der
Erkenntnis des Anderen, und der Reflexion, denn das Bewußtsein erkennt
sich immer auch selbst. Die Folge ist immer die gleiche: Hysterie.
Euphemistisch als "kulturelles Phänomen" bezeichnet, und damit sind wir
endlich beim Thema Harry Potter.
Harry Potter rief genau diese Hysterie hervor, in der jeder etwas
entdeckte, erkannte, und sicher sein konnte, daß jeder, der an dem
kollektiven Bewußtsein teilhat, dieselbe oder zumindest eine ähnliche
Erfahrung macht. Charakteristisch für den Akt des Erkennens und
Speicherns im Gedächtnis ist das Vergessen, das in dieser medialen
Gesellschaft erschreckend schnell funktioniert und letztlich paradox
erscheinen mag. Und so sind es wiederum Werbung und Marketing, denen
die anhaltende Aufgabe im weiteren Verlauf zukommt, den Gegenstand
frisch in diesem Bewußtsein, im Erkennen zu halten, ihn auf keinen Fall
sich erinnern und damit vergessen läßt. Der Film zu "Harry Potter"
kommt gerade rechtzeitig, so daß man sich noch daran erinnert. Er
frischt unser Gedächtnis auf und macht uns glauben, daß es das ist,
worauf wir warten, auch wenn wir gerade dabei waren, zu vergessen, um
uns auf die nächste Hysterie vorzubereiten.
Nun kommt also der Film. Und die Merchandising-Welle. Der zweite Film
wird schon gedreht, in der Hoffnung, daß wir nicht vergessen mögen. Und
ihn werden vermutlich ebenso viele sehen, wie den ersten Film sehen
werden. Die Frage ist nicht, warum sie ins Kino gehen, das tun sie
sowieso, die Frage ist, warum sie einen Film sehen wollen, den sie
eigentlich schon kennen. Um sich zu erinnern, muß die Antwort lauten.
Und zwar in zweifacher Bedeutung: Um endlich am kollektiven Bewußtsein
teilzuhaben, wenn sie das Buch nicht gelesen haben. Oder, wenn sie das
Buch kennen, um sich daran zu erinnern, es noch einmal zu durchleben,
nicht das Buch, die Geschichte oder den Akt des Lesens, sondern den Akt
des Erkennens, des Bewußtwerdens.
Doch damit ist es nicht getan. Um zu funktionieren, muß es mehr sein
als ein bloßes Erinnern. Es muß zu einem neuen Erkennen werden, eine
neue Erfahrung, sonst wird es gespeichert und damit vergessen. So wie
der neue "Star Wars"-Film, der das Bewußtsein sich zwar erinnern ließ,
aber es keiner neuen Erfahrung aussetzte, es nicht Erkennen ließ.
Deswegen endete die Hysterie an dem Tag, an dem der Film in die Kinos
kam. Die Hysterie war einzig ein außerfilmisches Erkennen.
"Harry Potter und der Stein der Weisen" bietet genau diese zwei
Stadien, die ihn funktionieren lassen könnten und zwar in verkehrter
Reihenfolge: Erinnern und dann Erkennen. Die Frage nach der Qualität
des Films steckt in dem Akt des (Wieder-)Erkennens, und lautet: "Was
gibt es denn zu erkennen?" Eine Geschichte, die der Leser schon kennt,
und die er nun endlich sehen darf. Sehen, und damit Erkennen in seiner
ursprünglichen, umgangssprachlichen Bedeutung. Mehr erwartet auch
keiner: nun zu sehen, was vorher imaginiert werden mußte, und den Rest
so getreu wie möglich zu übertragen, sodaß es zum Erinnern kommen kann
und nicht etwa in schmerzvollem Umdenken endet. Dafür eignet sich der
Roman hervorragend. Aufwendige Spezialeffekte und familienkompatible
Action mit dem typischen Humor sorgen genau für die neue Erkenntnis,
für das Sehen, das dem Buch gefehlt hat, ohne daß es sie benötigt
hätte. Dafür hat "Harry Potter" mit Chris Columbus einen Regisseur, der
neben einem der besten ("Gremlins") vor allem einige der schlechtesten
Filme der 80er und 90er gedreht hat. Mit "Harry" liegt er gemütlich
dazwischen, denn der Film bietet eben genau das, wofür er gemacht
wurde: Sehen und Erinnern. Um Kunst zu machen, wäre mehr nötig gewesen,
und ich will es ganz banal Denken nennen - auch wenn sich Kunst häufig
dadurch auszeichnet, daß genau dieser Schritt fehlt. Das schlägt sich
auch darin nieder, daß verzweifelt versucht wurde, nicht "Kunst"
sondern so etwas wie "gehobene Unterhaltung" zu machen und dies dadurch
zu kennzeichnen, daß mit Alan Rickman, Robbie Coltrane, Richard Harris,
John Cleese, John Hurt und Maggie Smith die Crème britischer
Schauspieler in Nebenrollen gleichermaßen besetzt wie verheizt wird -
es genügt, sie zu sehen, zu erkennen, daß sie da sind. Zum Erinnern
sind die Jungstars da, die ihre Sache hervorragend machen.
Um die pragmatischste Frage der Filmkritik umzuformulieren: Nicht
"Lohnt es sich, den Film zu sehen?", sondern: Wollen Sie ausgerechnet
diesen Film sehen? Nur wenn Sie sich erinnern oder endlich sehen
wollen. Denn ebenso pragmatisch wird der Film rezipiert werden und
einzig mit Fragen konfrontiert werden, wie: Sah es so aus, wie man es
sich vorgestellt hat? Welche Szene hat gefehlt? Und sowieso: Was ist
besser: Der Film oder das Buch? Diese Fragen mag jeder für sich
beantworten, und wen es nicht interessiert, den verweise ich auf andere
Filme, Filme, die "schmerzvoll umdenken" lassen.
Matthias Grimm
Dieser Text ist zuerst erschienen im:
Harry Potter und der Stein der Weisen
Harry Potter and the Philosopher's Stone.
USA 2001. R: Chris Columbus. B: Steve
Kloves. K: John Seale. S: Richard
Francis-Bruce. P: Heyday Films. M: John
Williams. D: Daniel Radcliffe, Emma
Watson, Rupert Grint, Robbie Coltrane, Alan
Rickman, Richard Harris u.a.152 Min. Warner
Bros. ab 22.11.01