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Hass
«Hass»
revisited
Vor genau zehn Jahren kam der Film «Hass»
in die Kinos. Die Geschichte von Unruhen in den Pariser Vorstädten und
Gewalt auf allen Seiten sorgte für heftige Diskussionen. Seitdem scheint
sich wenig geändert zu haben.
«Dies ist die Geschichte von einem Mann, der
aus dem 50. Stock eines Hochhauses fällt. Und während er fällt,
wiederholt er, um sich zu beruhigen, immer wieder: Bis hierher lief's noch ganz
gut, bis hierher lief's noch ganz gut. Doch wichtig ist nicht der Fall, sondern
die Landung.» Der französische Regisseur Mathieu Kassovitz lässt
die Zuschauer zu Beginn seines Films «Hass» allein mit einer schwarzen
Leinwand und diesen Worten. An deren Ende steht ein Bild der Welt vom All aus
gesehen, das von einem Molotow-Cocktail getroffen in Flammen aufgeht. Es ist
ein drastisches Bild, das das Publikum 1995, als der Film in die Kinos kam,
irritierte. Doch offenbar waren dieses Bild und die dazugehörige Geschichte
über drei Jugendliche aus der Pariser Banlieue noch nicht drastisch genug.
Denn auch ein Jahrzehnt später gleichen sich die Geschehnisse. Nur sind
sie in diesen Tagen Realität.
Ein guter Grund, sich «Hass» noch einmal
anzusehen, um zu verstehen, wo die Schlachten mit der Polizei und die brennenden
Autos herkommen, an denen die verschärften Gesetze kaum etwas ändern
werden. Kassovitz bekommt derzeit ununterbrochen Interviewanfragen, sagt er.
Medien aus aller Welt wollen seine Meinung hören zu den Unruhen, die gerade
Frankreich erschüttern, doch sei es ihm gar nicht möglich, all die
Anfragen einzeln zu beantworten. Also tut er es in einem Statement auf seiner
Website: «So sehr ich mich aus der Politik heraushalten möchte, so
schwierig ist dies doch angesichts der Verdorbenheit der Politiker», schreibt
der Regisseur. «Vor allem, wenn diese Verdorbenheit den Hass der ganzen
Jugend auf sich zieht. Da fällt es mir schwer, die Randalierer nicht zu
ermutigen.»
Sein Film beginnt mit realen Bildern von den gerade
so aktuellen Straßenschlachten, denn diese sind nicht neu in Frankreich.
Immer wieder ist es zu Ausbrüchen gekommen, nur haben sie bisher nicht
so lange angehalten. Die Gewalt allerdings war immer da, gehört zum Alltag
der aus den Stadtzentren Abgeschobenen. Sei es die Gewalt gegeneinander oder
die, die von außen kommt. Auch der Realität gespenstisch nahe ist
der Grund für die Ausschreitungen: In «Hass» hat die Polizei
einen Jungen namens Abdel so schwer verletzt, dass er im Koma liegt. Sein Bild
ist immer wieder zu sehen, ein lachendes Gesicht im Fernsehen, wo über
seinen Zustand berichtet wird. Kassovitz erzählt die Geschichte von Hubert,
Said und Vinz, Kumpel von Abdel, und deren ganz unterschiedliche Reaktionen
auf die Eskalation in der Cité.
Morgens um halb elf nach einer Nacht der Krawalle
steht der arabischstämmige Said in seinem Block und ruft Vincent, der in
irgendeinem der heruntergekommenen Hochhäuser wohnt, die alle gleich aussehen.
Uniformierte Polizei steht herum, bewacht den tristen Alltag aus Joints und
Langeweile. Kassovitz hatte in Farbe gedreht, doch diese dem Film gleich wieder
entzogen. Von hartem Schwarz-Weiß sind die Bilder, die sich gegen die
Klischees über die Vorstädte wehren. Said und Vinz, der Jude ist,
streifen durchs verwüstete Viertel. Allerdings ist klar, dass der Unterschied
zu vorher nur ein minimaler ist. Sie treffen Hubert, für den der Unterschied
wiederum ein großer ist, denn der Schwarze hatte eine Art Jugendzentrum
aufgebaut, das der Mob auch angezündet hat. Während Vinz begeistert
von den Kämpfen der vergangenen Nacht erzählt – «Das war der
reine Krieg. Ich gegen die Bullen» -, wird schnell klar, dass Hubert die
andere Seite vertritt. Er hat das Leben in der Cité satt, doch weiß
er auch, dass er kaum Chancen hat, ihm zu entkommen. Said steht irgendwo dazwischen.
Er ist der Clown der Gruppe und bringt die zum Lachen, die eigentlich wenig
zu lachen haben.
In der Cité geht das Gerücht, dass ein
Polizist im Viertel seine Waffe verloren habe, eine 45er, und die Frage lautet
nun, wer sie wohl gefunden hat. «Wer immer die Wumme findet, macht hoffentlich
auch in der Stadt Terror und nicht nur bei uns», so der Wunsch eines Freundes
von Said. Denn die Krawalle verletzen hauptsächlich die eigenen Nachbarn.
Es ist schließlich Vinz, der die Pistole hat, und es ist auch klar, was
er damit tun will. «Willst Du'n Bullen töten?», fragt Hubert.
«Ich gleiche die Bilanz aus», sagt Vinz. «Ich habe es ein
für alle Mal satt, mir täglich dieses System reinzuziehen. Dann werden
sie ein für alle Mal begreifen, dass wir nicht die andere Wange hinhalten.»
«Wenn du in die Schule gegangen wärst, wüsstest du, dass Hass
nur Hass nach sich zieht.» «Ich war nicht in der Schule, ich war
auf der Straße.» Wenn Abdel stirbt, werde er einen Polizisten töten,
so sein Beschluss, mit dem sich Vinz jeden Rückweg verbaut.
Trotz der rauen, mit Beschimpfungen gespickten Sprache
– in jedem Satz wird mindestens ein Familienmitglied des Gegenübers geschändet
– ist es Kassovitz gelungen, die drei jungen Männer eindringlich zu porträtieren.
Es sind kurze Seitenblicke in die Umgebung, auf die Reaktionen der Mitmenschen.
Ganz nebenbei wird klar, in welcher Hölle Hubert, Said und Vinz leben und
wie sie sich mit diesem Leben arrangiert haben. Wie eine persönliche Beleidigung
wirkt da das Plakat, das immer wieder auftaucht, auf dem steht: «Die Welt
gehört euch!».
Schließlich fahren die drei Freunde ins Pariser
Zentrum, um einen Bekannten von Said zu treffen, der ihm Geld schuldet. Doch
scheinen sie die Cité mitzuschleppen. Said und Hubert werden nach einem
Streit verhaftet und von rassistischen Polizisten misshandelt. Vinz, der die
ganze Zeit die Waffe bei sich trägt, entkommt. Alles was geschieht, ist
die logische Folge des Vorhergegangenen. Kassovitz macht deutlich, dass die
Jugendlichen gar keine Chance haben, zur Ruhe zu kommen. Jedem Augenblick der
Entspannung folgt die Strafe, jedem Vertrauen, ein Schlag ins Gesicht, jedem
Lachen ein Verlust. Und dann stirbt Abdel.
Für Kassovitz liegt die Schuld
für die bereits zwei Wochen anhaltenden nächtlichen Krawalle bei Frankreichs
Innenminister, Nicolas Sarkozy. «Wenn die Vorstädte heute wieder
explodieren, dann liegt das nicht an einer Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen,
mit denen sogenannte Immigranten tagtäglich zu kämpfen haben. [...]
Diese brennenden Autos sind oberflächliche Eruptionen angesichts des mangelnden
Respekts des Innenministers gegenüber der Gesellschaft [dieser Jugendlichen].»
Sarkozy hatte angekündigt, «diesen Abschaum»
mit einem Hochdruckreiniger loswerden zu wollen. «Seine Losung 'Null Toleranz'
funktioniert in beide Richtungen», so Kassovitz weiter. Bestätigt
wird der Filmemacher und Schauspieler durch aktuelle Interviews mit denen, die
nachts gegen die Polizei ziehen: «Wir hören auf, wenn Sarkozy zurücktritt»,
heißt es immer wieder. «Er soll sich entschuldigen.»
Und es wird Zeit, mehr zu tun für einen ignorierten
Teil der eigenen Gesellschaft, denn wie Hubert bereits vor zehn Jahren am Ende
von «Hass» sagte: «Dies ist die Geschichte einer Gesellschaft,
die fällt.» Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen
sind rein zufällig.
Sophie Albers
Dieser Artikel ist
zuerst erschienen am 09.09.05 in der http://www.netzeitung.de
Hass
(1995)
LA
HAINE
Frankreich
- 1994 - 98 min. - Erstaufführung: 26.10.1995/7.10.1996 Video
Regie:
Mathieu Kassovitz
Buch:
Mathieu Kassovitz
Kamera:
Pierre Aïm
Musik:
div. Songs
Schnitt:
Mathieu Kassovitz, Scott Stevenson
Darsteller:
Vincent
Cassel (Vinz)
Hubert
Koundé (Hubert)
Saïd
Taghmaoui (Saïd)
Karim
Belkhadra (Samir)
François
Levantal (Asterix)
Marc
Duret (Inspektor "Notre Dame")
Solo
Dicko (Santo)
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