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Seit
Jahrzehnten schon gilt der sowjetische Boxer, Schauspieler und Regisseur Boris
Barnet als einer der großen Unbekannten der Filmgeschichte. Weil sich
das ändern muss, sei’s hiermit nachdrücklich verkündet: Seine
Großstadt-Komödie Dom
na Trubnoj (Das
Haus in der Trubnaja-Straße;
1928) allein ist so einfallsreich, klug und witzig, dass sie filmhistorische
Verschwörungstheorien auslösen kann.
Zum
Beispiel diese: Kann es nicht sein, dass ein wahnsinniger Apparatschik aus dem
Politbüro den jungen Jean Renoir aus Frankreich entführt, ihn an Dziga
Vertov gekettet und sie unter Androhung sibirischer Zwangsarbeit zur Arbeit
an einem Propaganda-Film über Moskau gezwungen hat; woraufhin die beiden
mittels Wodka und einer Vorblende (beim Film geht das ja recht leicht) spirituellen
Kontakt zum noch ungeborenen Jean-Luc Godard aufnahmen, der ziemlich genau 30
Jahre später gerade À
bout de souffle
drehte
und sie in Sachen moderner Urbanität beriet; was in Summe einen so unpathetischen,
ehrlichen Blick auf die Reize aber auch die sozialen Probleme der Stadt – Ausbeutung
und die Brüchigkeit sozialer und politischer Gemeinschaft – ergab, dass
das ungleiche Regie-Duo dem ungeheueren Zorn unseres Apparatschiks nur dank
der Muskelkraft des ehemaligen Boxers Boris Barnet entkam, der als Gegenleistung
in den Credits als Regisseur dieses Films angegeben wurde; dessen einzige Kopie
der Apparatschik sodann wutentbrannt in einer Kolchose in Kasachstan im Kartoffelacker
verbuddeln ließ, um dieses Werk für immer vor dem Gedächtnis
der Filmgeschichte zu verstecken?
So
plausibel diese Erklärung klingen mag – zumal, was den wild wuchernden
Slapstick, das genaue Auge für menschliche Eitelkeiten, die Freude am Experiment
mit dem kinematographischen Apparat und vor allem die unbändige Lust an
Bewegung und Geschwindigkeit angeht, die sich in Dom
na Trubnoj
ihre Bahn brechen, und auf der anderen Seite die skandalös marginale Rolle
dieses Films in traditionellen Filmgeschichtsschreibungen: Eine andere, einfachere
wie ungeheuerlichere These wäre, dass das alles (und noch mehr) tatsächlich
Boris Barnet und seinem Filmteam zuzuschreiben ist, und dass der einfach durch
den Lattenrost der hegemonialen Film-Kanonisierungs-Mechanismen gefallen ist.
Stadt,
Film, Fließband
Eine
junge Frau kommt vom Land nach Moskau und muss lernen, sich in der großen
Stadt zurechtzufinden. Das ist im Wesentlichen die Geschichte dieses Films,
und zugleich ist es eine Filmgeschichte: Die vom Kino als einem Zeitgenossen
moderner Stadtentwicklung und einem urbanen Navigationsinstrument: einem Ort,
wo inmitten wuchernder Unübersichtlichkeit ein neues Sehen eingeübt
wird, ein produktiver Umgang mit den Reizen, die einen zu überfluten drohen.
Der Einfallsreichtum, mit dem hier urbane Energien in Filmbilder übertragen
werden, kennt kaum Grenzen: Ob in brillanten Totalen, die uns drei Stockwerke
eines belebten Steigenhauses gleichzeitig zeigen (und Jacques Tatis Playtime
vorwegnehmen), oder in zeitraffer-beschleunigten Kamerafahrten durch Moskauer
Straßen, Stadt und Kino fallen als Wahrnehmungsphänomene in eins.
Auch das Spiel mit Spiegelflächen und die typisch „sowjetischen“ Montage,
wie sie das Kino Sergeji Eisensteins bestimmen, finden hier humorvolle, lyrische
Variationen. So überfüllt ist der Film, dass er an einer Stelle sogar
das Korsett linearen Erzählens sprengt (was zu einem Kunstgriff führt,
der noch bei Fight
Club,
über 70 Jahre später, die Aura des unerhört Innovativen haben
wird).
Die
liebe Paranja (Vera Maretskaya), die ganz allein mit ihrer Ente in Moskau landet
(der Onkel, den sie besuchen sollte, ist abgereist) dient als Filter unserer
Stadtwahrnehmung. (Wobei diese funktionale Bezeichnung Vera Maretskayas eigenwilligem
Charme eines unbedarften, aber durchaus pragmatischen Mädchens vom Land
bei Weitem nicht gerecht wird.) Zuerst ist sie noch eingeschüchtert von
der hektischen Bewegung. Aber als sie erst einmal Anschluss bei einem Bekannten
gefunden hat, lernt sie schnell, sich von den urbanen Reizen anstecken und euphorisieren
zu lassen. (In dieser „Aneignung“ oder „Infektion“ urbaner/kinematographischer
Energien liegt vielleicht eine der heute interessantesten Visionen des Sowjetkinos
der 20er Jahre.) Dass sich städtisches Zusammenleben bei weitem nicht in
dieser Utopie von Gemeinsamkeit erschöpft, davon erzählt Dom
na Trubnoj
aber genauso anschaulich: Paranja wird vom Friseur Golikow und dessen fauler
Frau als unregistrierte Dienstkraft eingestellt und ausgenützt: In den
Bildern und der Montage hektischer Haushalts-Verrichtungen (konterkariert von
einer zusammenlegten Matratze, die wie ein lebendig gewordener Widerstand der
Dingwelt, ein Slapstick-Stein des Sisyphus immer wieder von ihrem Platz auf
einem Kasten zu Boden fällt und sich auffaltet) wird auch etwas vom Albtraum
neuer, beschleunigter Arbeitsformen erfahrbar, der mit Stadt und Kino ebenfalls
eng verknüpft ist.
Kollektiv
für sich
Rettung
aus diesem „kapitalistischen“ Ausbeutungszusammenhang kommt hier freilich bald
von Seiten des Partei-Apparats und seiner freundlichen Repräsentanten.
Aber wenn auch am Ende so Gerechtigkeit hergestellt wird, bleibt die Darstellung
politischer Gemeinschaft ambivalent: Im titelgebenden Wohnhaus in der Trubnaja-Straße,
wo Paranja lebt und arbeitet, bedeuten politische Ämter vor allem Prestigegewinn
und Anlass zur Heuchelei. Und wenn sich Paranja am Wahltag zum Sowjet überglücklich
in der aufmarschierenden Menschenmasse verliert, dann nur um im nächsten
Moment ganz alleine am breiten Prospekt und in der entleerten Totale zu stehen:
So fest ist die Verbindung im Kollektiv doch nicht geknüpft, dass sich
dieses nicht im nächsten Moment in alle Windesrichtungen zerstreuen könnte.
Da
mag Paranja nach einer Theatervorstellung, in der sie der Französischen
Revolution spontan ein anderes Ende verpasst hat, vom tosenden Publikum sogar
auf Händen getragen werden: Hinterher traut sie sich nicht heim, weil sie
mit dem konterrevolutionären französischen General auch ihren Arbeitgeber
von der Bühne geprügelt hat. Darin ließe sich ebenfalls eine
gemeinsame Geschichte der Stadt und des Kinos aufspüren: in einer prekären
sozialen Konstellation kollektiven Für-Sich-Seins. Ob sich diese Distanz
wirklich nur für Momente euphorischer Wahrnehmung überwinden lässt
oder nicht, was diese Distanz konstituiert und wie sie zu überwinden wäre,
das wäre wiederum in Verschwörungstheorien zu erkunden. Zum Beispiel
in denen, die die Herren Horkheimer und Adorno in ihrem paranoiden Gesellschafts-Krimi
Dialektik
der Aufklärung
dargelegt haben.
Diese
Kritik ist auch erschienen in:
Das
Haus in der Trubnajastraße
DOM
NA TRUBNOI
UdSSR
- 1927 - (TV) 60 min. – schwarzweiß – Komödie - Verleih: offen -
Erstaufführung: 7.11.1971, WDR III - Produktionsfirma: Meschrapom - Regie:
Boris Barnet - Buch: B. Soritsch - Kamera: J. Alexejew - Darsteller: W. Maretzkaja,
Wladimir Fogel
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