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Heimat-Fragmente:
Die Frauen
„Dass das Gedächtnis das
Vergangene doch fassen könnte in die Formen, mit denen wir die Wirklichkeit
einteilen! Aber der vielbödige Raster aus Erdzeit und Kausalität und
Chronologie und Logik, zum Denken benutzt, wird nicht bedient vom Hirn, wo es
des Gewesenen gedenkt.“ Übertragen auf die Erzählkunst bedeutet das:
Wer das Erinnern darstellen will, muss den Pfad der Linearität verlassen.
Edgar Reitz, von dem das Zitat nicht stammt, hat dies in seiner „Heimat“-Trilogie
selten getan; er selbst hat einmal betont, dass ihn mehr Schauplätze und
Figuren interessierten als der Topos Zeit. Zeit als solche müsste man diskontinuierlich
schildern, wie es Uwe Johnson in seinem Erinnerungsroman „Jahrestage“ bewerkstelligt
hat (aus dem das Zitat stammt). Die Gedanken der Romanheldin Gesine Cresspahl
wandern dort beständig aus der Erzählgegenwart in die Vergangenheit,
ein zwischen New York und Mecklenburg oszillierender Bewusstseinsstrom, der
von Reitz’ Erzählweise weit entfernt ist. Was sich im fiktiven Dorf Schabbach
im Hunsrück abspielt, ob 1919, 1955 oder 2000, ereignete sich bisher fast
durchweg im „Hier und Jetzt“. Wenn Reitz in „Heimat-Fragmente“ nun erstmals
einen Erzählrahmen baut, von dem aus Lulu, die letzte der Simons, die Bilder
der Vergangenheit betrachtet, stört einen von Anfang an, wie wesensfremd
diese Form literarischen Erzählens seiner filmischen Vorgehensweise eigentlich
ist. Indes wird auch gar nicht behauptet, dass dieser Appendix die „Heimat“-Saga
als eine Art vierter Teil fortspinnen soll. Spürbar wird jedoch, dass Reitz
Mühe hat, sich zu trennen: von seinen über 300 Charakteren und seinem
Hunsrück-Epos, das in über 25 Jahren Produktionszeit entstand.
Im Frühjahr 2005 stieß
der Regisseur auf sechs Stunden vielfach fertig montierten Materials, das in
den 30 Folgen der drei „Heimat“-Staffeln keine Verwendung gefunden hatte. „Möglicherweise
waren die Szenen zu ‚philosophisch’,“ bekennt Reitz nun. „Sie haben sich also zu sehr den gedanklichen
Vertiefungen bestimmter Themen gewidmet oder beschäftigten sich gar auf
subtile Weise mit den ästhetischen Gesetzen des Filmemachens.“ Aus dieser
Erkenntnis heraus geht Reitz durchaus konsequent vor, wenn er Lulu nun zur Philosophin
werden lässt: „Ich habe mich oft gefragt, wie das mit dem Erinnern geht.
Das Gedächtnis bewahrt immer nur Bruchstücke auf, Reste, die nie ein
Ganzes sein wollen.“ Dies hätte auch Uwe Johnson seiner Gesine Cresspahl
in den Mund legen können, wenn es nicht so platt wäre. Überhaupt
fragt sich, wen die Erzählerin, in „Heimat 3“ (fd 36 711) noch ein Charakter
aus Fleisch und Blut, hier repräsentiert: Begegnet man wirklich Lulu, der
Tochter von „Hermännchen“ und „Schnüsschen“, dem Paar aus „Die zweite
Heimat“? Oder ist Lulu lediglich Sprachrohr ihres Autors, das philosophische
Plattitüden von sich gibt? Am Ende erweist sich die junge Frau gar als
künstliche Figur, wenn sie mit geschlossenen Augen vor einer Leinwand sitzt,
über die „Heimat“-Szenen flimmern: „Nicht ich träume von diesem Film,
sondern der Film träumt von mir.“ Diese Dekonstruktion der Lulu-Figur und
letztlich die melancholisch grundierte Demontage des kompletten Epos ist als
Akt der Emanzipation eines Regisseurs von seinem Opus Magnum nachvollziehbar;
aber selbst eingefleischten „Heimat“-Fans dürfte der Erzählsteinbruch
fremd bleiben.
Gänzlich ohne Struktur ist
der Reigen der „Heimat“-Fragmente freilich nicht. Verbindendes Element ist der
Fokus auf die Frauengestalten der Serie. Die Ungereimtheiten dieser Biografien
haben Reitz immer besonders interessiert: „Einerseits gibt es die Aufbrüche
aus der traditionellen Rolle als Mutter und Ehefrau in die rationale Männerwelt,
(...) andererseits gelingt es wie nie zuvor, die Frauenrolle noch weiter zu
ritualisieren. (...) Die interessantesten Frauen des Jahrhunderts – und die
Schabbacherinnen gehören dazu – inszenieren ihr Leben als Seiltanz.“ Frauenliebe
und -leben in Filmschnipseln, ein Wiedersehen mit liebgewonnen Charakteren:
mit Katharina, der still-resoluten Familienmutter, mit der heiteren Dulderin
Maria, mit Clarissa, Helga und Olga und der lebenslustigen Dorli, die Veronica
Ferres mit ansteckendem Optimismus verkörperte. Auch „Moderatorin“ Lulu,
gespielt von der auf sanfte Weise intensiven Nicola Schößler, war
einmal eine lebenswarme Figur. Hier streift sie als Familien-Archäologin
mit Spaten und Bohrer (!) durch Schabbach und München, um Geschichtenreste
auszugraben, die mit ihrer eigenen Biografie nur sehr bedingt etwas zu tun haben.
Zumindest Lulus Bekenntnis „Ich bin die Frau mit den vielen Müttern“ entspricht
nicht der Bedeutung, die diese Liebschaften von Hermann in der Trilogie für
Lulu hatten. Aber in „Heimat-Fragmente“ geht es offenbar nicht mehr um nachvollziehbare
Psychologie und schon gar nicht ums Erzählen. Es scheint eher der paradoxe
Versuch zu sein, etwas zu Ende zu bringen, das einen Schlusspunkt nicht verträgt.
Am Ende schreitet Lulu über eine Bodenfläche ausgelegter Schabbach-Fotos
eher respektlos hinweg. Solche Distanz zu seinen Geschöpfen ist auch Edgar
Reitz zu wünschen. Dass er erwägt, aus dem verbliebenen Archivmaterial
noch einen Männer-Film zu kompilieren, weckt jedenfalls keine Euphorie.
Jens Hinrichsen
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: film-dienst 24/2006
Heimat-Fragmente
- Die Frauen
Deutschland
2006
Länge
(PAL-DVD): 146 Minuten
Regie:
Edgar Reitz
Drehbuch:
Edgar Reitz
Produktion:
Christian Reitz, Edgar Reitz
Musik:
Michael Riessler
Kamera:
Christian Reitz
Schnitt:
Christian Reitz
Besetzung:
Nicola
Schössler: Lulu Simone Simon
Michael Lesch:
Paul Simon
Marita Breuer:
Maria Simon
Sabine
Wagner: Martha Simon
Karin
Rasenack: Lucie Simon
Rüdiger
Weigang: Eduard Simon
Eva
Maria Schneider: Marie Goot
Eva
Maria Bayerwaltes: Pauline Simon (später Kröber)
Michael
Kausch: Ernst Simon
Jörg
Richter: Hermann Simon (jung)
Gudrun
Landgrebe: Klara "Klärchen" Sisse
Henry
Arnold: Hermann Simon
Salome
Kammer: Clarissa Lichtblau
Noemi
Steuer: Helga Aufschrey
Veronica
Ferres: Dorli
Gisela
Müller: Evelyne Cerphal
Michael
Seyfried: Ansgar Herzsprung
Lena
Lessing: Olga Mueller
Carolin
Fink: Kathrin Schoeps
Armin
Fuchs: Volker Schimmelpfennig
László
I. Kish: Reinhard Doerr
Frank
Röth: Stefan Aufhauser
Peter
Weiss: Rob Stuermer
Franziska
Stömmer: Frau Ries
Alexander
May: Konsul Handschuh
Hanna
Köhler: Frau Moretti
Peter
Schneider: Tillmann Becker
Julia
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Maximilian
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Caspar
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