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Herbstsonate
Zwei
im Schatten ...
"Der Mensch muss lernen
zu lieben.
Ich übe es jeden Tag."
(Eva)
Ein Kammerspiel, fast schon eine
klassische Tragödie. Ein Kampf der Titanen sicherlich nicht. Aber der Kampf
zwischen zwei Lebensentwürfen, die weitgehend miteinander verwoben sind
und gegeneinander kämpfen- das ist Ingmar Bergmans "Herbstsonate",
in der Ingrid Bergman ihre letzte Kinorolle spielte - als Konzertpianistin Charlotte
und Mutter zweier Töchter, der mit einem Pfarrer verheirateten Eva (Liv
Ullmann) und der an Epilepsie erkrankten Helena (Lena Nyman).
Wie in vielen Filmen des schwedischen
Regisseurs ist der Raum des Geschehens eng begrenzt, hier das Pfarrhaus von
Eva und ihrem Mann, dem Pfarrer Viktor (Halvar Björk), in dem beide die
kranke Helena pflegen und scheinbar ein Leben in Ruhe führen. Nur mit wenigen
Rückblenden in das Leben von Eva und Charlotte verlässt der Film den
Raum des Pfarrhauses.
Bergman erzählt die Geschichte
einer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung und entfaltet dabei zugleich das
Bild einer Familie, in der der Vater Evas und Helenas nur schemenhaft ins Bild
gerückt wird, ebenso die Bekannten Charlottes und ihr letzter Liebhaber
Leonardo, der zu Beginn des Films gerade verstorben ist. Eva lädt ihre
Mutter, die sie seit sieben Jahren nicht gesehen hat, zu sich ein. Voller Wiedersehensfreude
fallen sich Mutter und Tochter in die Arme. Doch schon bald wird deutlich, dass
beider Beziehung durch die Vergangenheit schwer belastet ist.
"Alles, was Dir in die
Finger geriet, hast Du
erstickt."
(Eva zu Charlotte)
Schon die - Charlotte nicht bekannte
- Anwesenheit der Tochter Helena deutet darauf hin. Charlotte kann Krankheit
und Kranke nicht ertragen - nicht einmal bei ihrer eigenen Tochter. Sie schauspielert
überzeugend Wiedersehensfreude, ohne Helena nach dieser ersten Begrüßung
noch einmal in ihrem Zimmer zu besuchen.
Der Film wird eingerahmt von Viktor,
der direkt zum Publikum spricht, von seiner Frau erzählt, die er liebt,
die ihn aber nicht liebt, und bei der er trotzdem geblieben ist und bleiben
wird.
Als Charlotte Eva bittet, ihr
auf dem Klavier etwas vorzuspielen, ist in ihrem Gesicht zu sehen, wie verächtlich
sie ihre eigene Tochter betrachtet. Sie müsse Chopins Stück kalt spielen,
nicht sentimental. Chopin habe nichts Sentimentales an sich gehabt. Und in diesen
Äußerungen kündigt sich an, was das Verhältnis der beiden
Frauen belastet. Beide Frauen haben jemanden verloren: Charlotte ihren letzten
Lebensgefährten Leonardo, einen Bassisten, Eva vor Jahren ihren vierjährigen
Sohn, der ertrunken ist. Und doch ist die Reaktion der beiden auf den Tod ganz
unterschiedlich. Während Charlotte in Leonardo nur eine Art "Funktion"
für ihr Leben sah, ist der ertrunkene Sohn für Eva der einzige Mensch,
den sie (möglicherweise) liebte - wobei sie sich nicht sicher ist, ob sie
überhaupt lieben kann oder was Liebe eigentlich ist. Er ist für sie
nicht gestorben, sondern lebt in einer anderen Welt immer bei ihr.
Den toten Sohn hat Eva in eine
erdachte zweite Welt transponiert, um sich seiner gewiss zu sein als Objekt
ihrer Liebe, von der sie nicht weiß, ob es Liebe ist. Eva ist ein unsicherer
Mensch. Sie ist zu einem geworden.
"Menschen wie du sind
lebensgefährlich. Man
müsste
sie einsperren und unschädlich
machen."
(Eva zu Charlotte)
Schließlich kommt es nachts
zu einer hasserfüllten, tränenreichen Auseinandersetzung zwischen
Mutter und Tochter. Eva charakterisiert ihre Mutter als ausschließlich
ichbezogene Frau, die weder ihren Mann, noch ihre Töchter jemals geliebt
habe. Sie habe all ihre Kräfte statt
dessen in das Klavierspiel investiert, um von
daheim wegzukommen. Sie habe Evas erste große Liebe kaputt gemacht, sie
zur Abtreibung gezwungen und ihren eigenen Mann betrogen usw.
Charlotte wehrt sich, mehr im
Sinne einer Rechtfertigung, denn im Sinne eines irgendwie gearteten Verstehens
dessen, was ihre Tochter da sagt. Nach dieser Nacht verlässt sie fluchtartig
das Pfarrhaus.
"Ist mein Leid deine
heimliche Freude?"
(Eva zu Charlotte)
Dieses Kammerspiel, dessen Höhepunkt
sich im Wohnzimmer von Eva und Viktor abspielt, versetzt Bergman mit standbildähnlichen
Erinnerungsfetzen aus der Vergangenheit: Eva wird von ihrer Mutter zum Spielen
geschickt, weil sie allein sein will; Eva wird von ihrem Vater auf dem Sofa
gestreichelt, nachdem die Mutter sie wieder einmal allein gelassen hat usw.
Diese Bilder sind gestaltet wie Fotographien aus dem Familienalbum. Aber sie
geben nicht die üblichen tatsächlich oder vermeintlich schönen
Momente einer Familie wieder, sondern die depressiven, tragischen Augenblicke.
So entsteht das dichte Bild einer Familie, in der Charlotte und Eva die zentralen
Figuren zu sein scheinen. Bergman gelingt dies, ohne andere Mitglieder dieser
Familie mit Dialogen einzuführen. Selbst die Schwester erscheint im wesentlichen
"nur" als Kranke, die auf den Gang der Dinge keinen Einfluss mehr
zu haben scheint. Das Streitgespräch von Mutter und Tochter reicht vollkommen
aus, um sich ein Bild dieser Familie zu machen. Erst als Helena aus dem Bett
fällt und erschöpft aus dem Zimmer kriecht, beginnt man zu ahnen,
welche Tragödie sich hier abgespielt haben mag.
Bergman - wieder einmal stark
unterstützt durch seine Hauptdarstellerinnen - stellt eine Familie auf
- in selten da gewesener Transparenz. Dabei legt er durch die Worte seiner beiden
Hauptdarstellerinnen die tiefen Wunden, aber auch die Ursachen dieser Verletzungen
offen - und die Unfähigkeit beider - Mutter wie Tochter -, sich aus diesen
Verletzungen zu befreien. Lediglich der Schluss eröffnet eine leichte Brise
von Hoffnung.
Letztlich ist "Herbstsonate"
eine kräftige, aber nichtsdestotrotz "liebevolle", dem Publikum
wie seinen beiden Hauptfiguren zugewandte Kritik dessen, was man bürgerliche
Familie zu nennen pflegt. Bergman zeigt die starken emotionalen Abhängigkeiten,
nicht nur zwischen Eltern und Kindern, sondern - wie in "Szenen einer Ehe"
- auch zwischen Paaren, die ihre starken Auswirkungen auf die später erwachsenen
Kinder haben - und eben auch das Problem, sich von diesen "Familienbanden"
allmählich, aber sicher zu befreien. Charlotte - exzellent dargestellt
von der großen Ingrid Bergman - ist eine vordergründig egozentrische
Frau, die ihre Beziehungen zu anderen Menschen nur instrumentell gestalten kann
- egal um wen es sich handelt. Wie Eva ihr vorwirft, erstickt Charlotte alle,
die in ihre Nähe kommen, mit ihrem extremen Egoismus. Charlotte selbst
ist nicht anders erzogen worden. Berühren war in ihrer Ursprungsfamilie
tabu, sagt sie zu Eva. Und so erweist sich diese als Pianistin berühmte
und vermeintlich selbstsichere Frau als ein schwacher Mensch, der seine Schwächen
und Dissonanzen, Handicaps und Defizite aus falsch verstandenem Selbstschutzinteresse
nicht eingestehen kann.
Eva auf der anderen Seite, die
durch die Ferne ihrer Mutter immerzu gelitten hatte, glaubt, dies "vererbt"
bekommen zu haben: die Unfähigkeit zu lieben oder zu erkennen, was lieben
überhaupt bedeutet. Sie erkennt selbst nicht, wie sie die eigene Schwester
liebt, die sie zärtlich und sorgsam in ihrem Haus hütet und pflegt,
und wie sie auf ihre Weise auch ihren Mann wohl liebt. Sie kann dies nicht sehen,
weil sie es sich verboten hat, indem sie ihre Mutter als Objekt all ihrer eigenen
Schwächen zum Zentrum ihres Lebens gemacht hat.
Der Hass auf die eigene Mutter,
der Wechsel zwischen diesem Hass und der unbändigen Hoffnung, ihre Mutter
würde vielleicht doch irgendwann einmal auf sie zugehen, emotional versteht
sich, ließ Eva zu einer kalten Frau werden - nicht im Sinne einer herzlosen
Person gegenüber anderen. Nein, sie versteht sich mit ihrem Mann gut, sie
pflegt ihre Schwester, sie hat ihren Sohn eben doch geliebt und liebt ihn -
den sie in einer Art Parallelwelt neben sich vermutet - noch immer. Aber sie
ist in sich unsicher, sie hat kein wirkliches Zentrum in sich, und vor allem:
sie konnte sich nie zu einem erwachsenen Menschen emanzipieren. Die Kälte,
die sie verbreitet, bezieht sich kaum auf andere, vor allem auf sich selbst.
Es scheint, dass Charlotte das
eigentliche Übel der familiären Beziehungen ist. Doch dieser Scheint
trügt. Charlotte ist eben wie Charlotte ist - kein schlechter Mensch, aber
ein völlig auf sich bezogener, der sich in die Welt der Konzerte geflüchtet
hat, um nur nicht zu sich selbst zu kommen und zu anderen, deren Nähe ihr
Angst macht. Das Übel liegt woanders, nämlich nicht bei der einen
oder anderen Frau, sondern in der Verabsolutierung ihrer Beziehung zueinander
durch beide. Eva war unfähig, sich aus der Abhängigkeit dieses egoistischen
Menschen, ihrer Mutter, zu befreien. Sie kann die Verletzungen artikulieren,
die Folgen dieser Wunden offenlegen - aber dabei bleibt es. Damit aber legt
Bergman die eigentliche Wunde offen: die eng begrenzten Möglichkeiten und
die ausufernden Unmöglichkeiten der Familie, in der die Abhängigkeiten
- sicherlich auch kulturell, das heißt von aufgepfropften Wertvorstellungen
überwuchert, bedingt - das Individuelle und die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten
einengen oder gar unmöglich machen.
Andererseits zeigt diese Bergman'sche
"Familienaufstellung" auch, wie wenig außerhalb der Familie
die Möglichkeiten gegeben sind, sich aus der Enge, der Tradition, ja man
könnte schon sagen: dem "sozialen Biologismus" der Familie zu
lösen. Die im Grunde völlig schwache Forderung: "du musst deine
Kinder lieben und du musst deine Eltern achten" geht an der Lebenswirklichkeit
nicht nur vorbei. Sie nimmt darauf nicht einmal irgendeinen realistischen Bezug.
Hätte Eva die Möglichkeit gehabt, sich durch die eigene Kraft respektive
die Hilfe anderer aus dem Schatten ihrer Mutter zu befreien, könnte sie
Charlotte als selbständiger Mensch gegenübertreten und sie so nehmen,
wie sie nun einmal ist - trotz aller psychologischen Defizite der Vergangenheit.
Für ihre eigenen Kinder, so sie denn welche hätte, wären dies
die besten Voraussetzungen, um als selbständige Menschen aufzuwachsen.
Aber es scheint exemplarisch, dass, nachdem der einzige Sohn gestorben ist,
keine Kinder mehr nachkamen. Und auch die Epilepsie der Schwester erscheint
in diesem Kontext fast schon der Logik der Familienbeziehungen zu folgen.
Als Charlotte fluchtartig das
Pfarrhaus verlässt, weht ein Hauch von Hoffnung, als Eva ihrer Mutter einen
Brief schreibt, sich für die nächtliche Auseinandersetzung entschuldigt
und Charlotte sozusagen das Angebot unterbreitet, sich in Zukunft als Charlotte
und Eva zu begegnen - nicht in erster Linie als Mutter und Tochter. Sie scheint
nun zu wissen, dass auch Charlotte in ihrem Leben gelitten hat. Das Lieben-Üben
scheint sich gelohnt zu haben.
Auch heute noch ein großartiger
Film.
DVD
Format: Dolby, HiFi Sound, PAL
Sprache: Deutsch, Schwedisch, Hörfilmfassung für Blinde
Untertitel: Deutsch
Region: Region 2
Bildseitenformat: 1.66:1
FSK: Freigegeben ab 12 Jahren
Studio: Kinowelt Home Entertainment/DVD
DVD-Erscheinungstermin: 6. September 2005
Die von Kinowelt editierte DVD enthält neben dem in Bild und
Ton exzellenten Film lediglich den Trailer sowie Produktionsnotizen und eine
Biografie Bergmans in Texttafeln. Der Film erschien ebenfalls in der neun Filme umfassenden Ingmar-Bergman-Edition.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist
zuerst erschienen in:
Herbstsonate
(Höstsonaten)
Schweden, Deutschland, Großbritannien 1978, 89 Minuten
Regie: Ingmar Bergman
Drehbuch: Ingmar Bergman
Musik: Frédéric Chopin, Georg Friedrich Händel,
Robert Schumann
Kamera:
Sven Nykvist
Schnitt: Sylvia Ingemarsson
Ausstattung: Anna Asp
Darsteller: Ingrid Bergman (Charlotte Andergast), Liv Ullmann
(Eva), Lena Nyman (Helena), Halvar Björk (Viktor)
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