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Herr
Lehmann
„Ich glaube, du bist
so ein Typ, der alles werden könnte.“
„Was heißt werden?
Werden heißt doch, dass man noch nichts ist. Ich sehe das aber nicht so.“
Und was man alles werden
kann: Sparkassenangestellter, Event-Manager, und was gabs da noch? Ach ja, Fitnessbudenbetreiber.
Manche wollen nichts werden, wollen lieber bleiben, wie sie sind - ob sie dürfen
oder nicht – auch nicht erwachsen werden. Was bedeutet das eigentlich? Erwachsen
sein? Teil dieser unserer Erwachsenenwelt sein? Verantwortlich werden, mitmachen
bei all dem verantwortungslosen Tun, das die Erwachsenenwelt so tut?
In den siebziger und achtziger
Jahren gab es für Leute, die so denken wie Herr Lehmann, der Held des gleichnamigen
Films, in Deutschland eine Enklave, einen Ort, an dem große Kinder irgendwie
große Kinder bleiben konnten, der viele Jungs davor bewahrte, zur Bundeswehr
zu müssen, und noch mehr Jungs und Mädchen davor, Teil einer Gesellschaft
zu sein, deren Regeln und Normen ihnen Unbehagen bereitete. Sie zogen nach West-Berlin,
in die Mauerstadt, genauer: nach Kreuzberg, ganz genau gesagt in den Bezirk
SO36*. Damit waren sie aus der Welt – jedenfalls der ganz offiziellen deutschen
– und hatten ihre eigene, eine vorläufige Welt, deren Vorläufigkeit
von vitalem Interesse ihrer Bewohner war.
Der
Film „Herr Lehmann“ handelt vom Buch „Herr Lehmann“, und das Buch handelt von
ein paar dieser Leute, die in den Gärten des SO36, seinen Kneipen nämlich,
zu lustwandeln pflegen. Es gibt selten Verfilmungen interessanter Romane, die
ihre Vorlagen zu übertreffen imstande sind, und auch der Film „Herr Lehmann“
schafft das nicht, trotzdem rettet er einige wichtige Akzente hinüber auf
die Leinwand, und dafür muss man ihm schon dankbar sein.
Der symphatische Regisseur
Leander Haußman, der sich schon in „Sonnenallee“ mit dem Problem der
Mauer und ihrer Stadt und deren Jugend! – nur von der „östlichen“ Seite
her – beschäftigt hat, sagt, gerade das Defizit an Romanhandlung habe ihn
gereizt, „Herr Lehmann“ zu verfilmen. Einen Zustand also hat er bevorzugt, ganz
ähnlich wie in „Sonnenallee“, den Zustand statt „Action“ oder „Drama“. Zunächst beschreibt Sven Regeners
Roman – wie auch der Film - tatsächlich auch nur ein Seinsgefühl,
eine Lebensart zwischen Laune und hangover, zwischen den wichtigen Dingen:
dass Biere möglichst immer nur in 0,3 daherkommen sollten und Becks heissen
müssen, dass die „Elektrolyte“ stimmen müssen und deshalb Kartoffelchips
am Start sein sollten, und den leider immer wieder noch wichtigeren:
dass Frauen immer das seelische (und sogar das alkoholische) Gleichgewicht zu
stören imstande sind. Natürlich ist „Herr Lehmann“ dann doch eine
Geschichte aus Männer-(Jungs-)Sicht – übrigens genauso wie es die
„Sonnenallee“ war.
Speziell für Damen
kein Grund, gleich die Flinte ins Korn zu werfen: Auch Jungs sind manchmal in
der Lage, tragbare kleine Pseudo-Philosophien zu entwerfen. Darin übrigens
ist „Herr Lehmann“ (und sein Held) ein unbedingter Abkömmling des großen
Werner Enke („Zur
Sache, Schätzchen“),
der seiner gedanklichen („Block sieht heut’ keine Texte mehr“) Unkorrumpierbarkeit
(mehrere Jahre Sozialhilfe und engagierter Alkoholismus, vom Hörensagen)
immer treu geblieben ist – im Gegensatz zu der Glas, Uschi, die, wie man hört,
nach jahrzehntelanger Arbeit fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen,
inzwischen mumiengleich, in kommerziellen TV-Sendern Einbalsamierungstipps gibt.
Herr Lehmann also lebt in erster Linie, er ist, statt etwas zu werden, und dabei mitmachen
tun: sein bester Freund Karl (beste Leistung im Film: Detlev Buck), die Köchin
Katrin (die eher blasse Katja Danowski) und ein paar Nebenfiguren wie „Kristall-Reiner“
oder der kumpelige Kneipenchef Erwin. Nur bleibt diese Welt nicht, wie sie ist:
Traurige Veränderungen greifen um sich, Karl wird verrückt, Katrin
geht fremd, Erwin wird geschäftstüchtig. Am Ende schreiben wir den
9. November 1989, Herr Lehmann hat Geburtstag, die Mauer ist weg und Herr Lehmann
lebt in einer vollkommen veränderten Welt. Die böse Erwachsenen-Realität
ist eingebrochen in die Enklave der Berufsjugend. Hier endet der Zustand und
die „Action“, das Drama, genauer die Tragödie, beginnt.
Das heißt: wo das
Buch in traurigen Schlussakkorden endet, ist der Film zwar desillusioniert,
aber er verliert nicht so ganz seine fröhliche Grundstimmung - die insgesamt
auch manchmal zum Albernen tendiert. Christian Ulmen, über weite Strecken
erstaunlich nahe an seiner Figur Lehmann, spielt da z.B. viel zu overacted die Szene, in der ihm
von Katrin das Herz gebrochen wird: statt ein (mit Recht) tief verletzter junger
Mann ist da nur noch ein nervlich etwas zerrütteter Spinner – nicht mehr
ernst zu nehmen. Es scheint, als wäre aber eben das Absicht gewesen, nie
zuviel Ernst aufkommen lassen, die komischen Seiten betonen, die anderen vernachlässigen,
damit am Schluss eine Komödie dabei herauskommt. Aber was in „Sonnenallee“
auf anarchistisch-spielerische Weise aufgegangen ist, funktioniert in „Herr
Lehmann“ leider nur halb, weil das Buch (und das Drehbuch) von Sven Regener
eben nicht Komödie, sondern bestenfalls Tragikomödie ist.
Mit seinem zweiten Film
kinowiedervereinigt Haußmann Deutschland nun schon zum zweiten Mal. Nur
bedeutete der Fall der Mauer in „Sonnenallee“ einen Weg in die Freiheit. In
„Herr Lehmann“ kommt mit dem Ende des sozialistischen Staatengefüges auch
das Ende der letzten schwachen Utopien und Mini-Enklaven, wie dem Berliner Bezirk
SO36. Und selbst wenn Herrn Lehmann dann „der Olaf aus Friedewalde“ - exakt
derselbe, der in der „Sonnenallee“ noch „der Olaf aus Dresden“ war – beim Überschreiten
der Staatsgrenze euphorisch winkend begrüßt, dann schützt Herrn
Lehmann und seine Welt das auch im Film nicht davor, verloren zu gehen im Nebel
der Geschichte.
Manchmal
geraten Filmkritiken zu Buchtipps, auch hier. Aber sagen wir’s mal so: der Film
ist auch nicht schlecht.
Diese
Kritik ist erschienen bei ciao.de und in der www.filmzentrale.com
*
Kreuzberg SO36: bis zur Einführung der neuen Postleitzahlen wurden die
einzelnen Bezirke Westberlins in Postzustellbezirke unterteilt. In Kreuzberg
gab es Kreuzberg 61 (vorderes Kreuzberg) und eben SO36, das Gebiet, das dahinter,
nah an der Mauer, lag.
Herr
Lehmann
Deutschland
2003 - Regie: Leander Haußmann - Darsteller: Christian Ulmen, Katja Danowski,
Detlev Buck, Janek Rieke, Uwe-Dag Berlin, Martin Olbertz, Hartmut Lange, Margit
Bendokat - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 110
min. - Start: 2.10.2003
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