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Herzflimmern
Man könnte vielleicht sagen, dass Louis Malles Film „Le Souffle au coeur” den Versuch der Annäherung an die Denkweise und das Fühlen einer jungen Generation darstellt. Der Schluss des Films deutet dies in einer vielleicht gar nicht mehr so überraschenden Weise an. Eine ganze Familie sitzt im Gästezimmer eines Kurhotels – und lacht. Kurz zuvor kam es zum Inzest zwischen dem jüngsten Sohn der Familie, Laurent (Benoît Ferreux), und seiner Mutter Clara (Lea Massari), von dem die anderen allerdings nichts wissen. Wie kann und wie darf das – noch dazu: „unwidersprochen” sein?
Louis
Malle („Lacombe Lucien”, 1974; „Atlantic City”, 1980; „Mein
Essen mit André”,
1981; „Damage”, 1992; „Eine Komödie im Mai”, 1990) zeichnet exakt und en
detail das Bild einer Familie der oberen Mittelschicht im Dijon des Jahres 1954.
Die Franzosen engagieren sich in Vietnam und Algerien. Die französische
Regierung befindet sich aufgrund irgendeines politischen Skandals in der Krise.
Charles Chevalier (unvergesslich: Daniel Gélin), der Vater der Familie,
Gynäkologe, konservativ, hält den in diesen Kreisen nötigen,
in seinen Worten: respektvollen Abstand zu seinen drei Söhnen Thomas (Fabien
Ferreux), Marc (Marc Winocourt) und Laurent, der wiederum der absolute Liebling
seiner Mutter Clara ist, die nicht nur um einiges jünger als Charles ist,
sondern auch fast eher wie die Schwester ihrer Söhne aussieht und sich
oft auch so verhält.
Zum
Haushalt gehört noch Augusta (Ave Ninchi), Haushälterin und Kindermädchen,
der die drei Söhne über den Kopf gewachsen sind. Ab und zu bekommt
die Familie Besuch von Tante und Onkel (Micheline Bona und Henri Poirier), die
ebenso konservativ denken wie Charles. Laurent hingegen liest Camus, hört
Charlie Parker und anderen modernen Jazz und fühlt sich erwachsener, als
seine 15 Jahre vermuten lassen. Er geht in ein streng katholisches Gymnasium,
hat Unterricht bei Vater Henri (Michael Lonsdale), der es fast nicht fertig
bringt, seine sexuellen Begierden im Zaum zu halten.
Malle
präsentiert diese Verhältnisse einer „durchschnittlichen” Familie
der Mittelklasse in einer größeren Kleinstadt des konservativen Frankreichs
aber nicht nur in den Charakteren, sondern auch in Ausstattung, im Interieur
der Wohnung der Chevaliers, in Kleidung und Zeitumständen präzise
und überzeugend. Er erzählt die Geschichte der Familie, die vor allem
auch ein Sittengemälde ist, aus der Perspektive Laurents, aber nicht aus
der Ich-Perspektive, sondern so, als ob die Kamera Laurent ständig begleitet.
Das verschafft die Möglichkeit eines ausgewogenen Verhältnisses von
Nähe und Distanz für den Betrachter. Die Verhältnisse der Personen
der Familie Chevalier zueinander werden in einer selten selbstverständlichen
Offenheit gezeigt. Die Söhne sprechen offen, oft auch zynisch über
ihre Eltern, vor allem den Vater, allerdings nicht in bösartiger, sondern
eben in (aus ihrer Sicht) ehrlicher Weise.
Thomas,
Marc und auch Laurent werden als Brüder gezeigt, die einerseits flügge
werden oder schon geworden sind und das (zumeist heimlich) kennen lernen wollen,
was ihnen die Eltern vorenthalten: Sie gehen in Bars, schlafen mit Prostituierten,
trinken Alkohol, lesen verbotene Bücher. Andererseits werden gerade Thomas
und Marc als Jugendliche vorgeführt, die sich das Recht herausnehmen, ihren
jüngeren Bruder Laurent zu ärgern, reinzulegen, ihm dann aber wiederum
die Möglichkeit verschaffen, die Welt zu entdecken, die sie schon entdeckt
haben. Sie nehmen ihn mit in jene Bar, in der Laurent seine erste sexuelle Erfahrung
mit einer Prostituierten (Gila von Weitershausen) macht.
Laurent
weiß, dass seine Mutter eine mehr oder weniger heimliche Liaison mit einem
anderen Mann hat. Seine Gefühle demgegenüber bewegen sich zwischen
Eifersucht (weil er seine Mutter heiß und innig liebt), Toleranz (weil
sein Vater ihm gleichgültig ist und er deshalb sich nicht auf dessen Seite
stellt) und dem Wunsch, Clara nur für sich haben zu wollen.
Als
Laurent herzkrank und ihm eine Kur verschrieben wird, geht Clara mit ihrem Sohn
in das noble Kurhotel für noble Leute, in dem Laurent den arroganten Hubert
(François Weber) und etliche Mädchen seines Alters kennen lernt.
Claras Absichten dabei sind klar: sie will ihren Liebhaber von dort aus heimlich
treffen. Andererseits wird das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn immer
intensiver.
Man
könnte Malles Film auch als Geschichte der aus Italien stammenden Clara
begreifen, deren Verhalten maßgeblich das Geschick ihrer Söhne, vor
allem Laurents, bestimmt, einer Frau, die an kaum etwas glaubt, die ihr Leben
ohne Pläne lebt, die aus der Enge der familiären Lebensverhältnisse,
die ihr die nötige finanzielle Sicherheit verschafft haben, ab und zu ausbricht,
aber nicht wirklich entschlossen ist, sich von ihrer Familie zu trennen. Clara
lebt in der typischen Konstellation von Geld, Einfluss und Sex, die jeweils
eigenen personellen Ebenen zugeordnet sind. Malle gelingt eine (vorurteilsfreie
und frei von moralischer Verurteilung geprägte) Darstellung dieser Verhältnisse
und der Geschichte, die zum Inzest führt, die diesen als logische Konsequenz
der Entwicklung einer Familie erscheinen lässt. Auch die Darstellung des
Inzests ist frei von voyeuristischen Elementen oder „Knalleffekten”. So aufsässig
sich die drei Söhne gegen die Verhaltensweisen vor allem ihres Vaters gebärden,
so deutlich bewegen sie sich doch in den gleichen Bahnen, die ihnen von ihrer
unmittelbaren Umwelt vorexerziert werden.
Nach
dem Inzest schläft Laurent noch in derselben Nacht mit Daphne (Corinne
Kersten), ebenfalls Patientin im Kurhotel. Clara hatte ihm, nachdem beide miteinandergeschlafen
hatten, gesagt: „Wir erinnern uns daran als etwas Schönes, das wir nie
vergessen werden, das sich aber auch nie wiederholen wird. Es bleibt für
immer unser Geheimnis.” Laurent hat den ersten Schritt zum Erwachsenenalter
hinter sich. Er schläft mit Daphne. Die Familie vereint sich im Lachen.
Man
mag diesen Werdegang der Geschichte für abstrus halten, sich empören.
Doch wenn man Louis Malles Film gesehen hat, kommt keine Empörung auf.
Laurent betritt die Welt der Erwachsenen. Ob er bei Camus bleibt und bei seiner
Ablehnung des französischen Kolonialkrieges in Vietnam, ob er weiterhin
Charlie Parker hören wird oder nicht – wer weiß das schon? Jedenfalls
wird ihn der Inzest nicht in die psychischen Niederungen einer ewigen Belastung
führen, die sein gesamtes künftiges Leben bestimmen wird. Laurent
ist frei von der Unschuld seiner Kindheit und bestens gewappnet für die
Schuld, die er künftig auf sich laden wird.
Der
Gegenpart im Film zu Laurent ist der innerlich völlig unsichere Kandidat
Hubert, der die Ideologeme seiner familiären und sozialen Umwelt nachbetet,
ohne zu wissen, wovon er eigentlich spricht. Äußerlich zeigt sich
dies in einer permanenten Arroganz in Gebärde und Worten. Demgegenüber
hat es Laurent gelernt, auch mit Ablehnung umzugehen, etwa wenn die hübsche
und von ihm begehrte Helene (Jacqueline Chauvaud) ihm mehrfach einen Korb gibt,
weil sie nicht mit ihm schlafen will.
Wenn
Charles, Clara, Laurent, Thomas und Marc in der Schlussszene lachen, als Laurent
mit den Schuhen in der Hand von seinem nächtlichen Abenteuer mit Daphne
ins eigene Hotelzimmer kommt, so ist dies auch ein befreiendes Lachen, ein Lachen
darüber, dass alles glimpflich abgelaufen ist, dass niemand zu Schaden
gekommen ist, dass es zu keinem Exzess, keiner Gewalttat gekommen ist oder Schlimmerem.
Erstaunlich
frisch und authentisch spielt der junge Benoît Ferreux diesen Laurent.
Und Lea Massari steht ihm in nichts nach. Insbesondere das Spiel dieser beiden
macht die Malle’sche Geschichte so glaubwürdig und in sich konsistent und
logisch.
Wertung:
10 von 10 Punkten.
Herzflimmern
(Le
Souffle au coeur)
Frankreich
1971, 118 Minuten
Regie:
Louis Malle
Drehbuch:
Louis Malle
Musik:
Gaston Frèche, Charlie Parker, Henri Renaud, Sidney Bechet
Director
of Photography: Ricardo Aronovich
Montage:
Suzanne Baron, Catherine Brasier-Snopko, Solange Leprince
Produktionsdesign:
Jean-Jacques Caziot, Philippe Turlure
Darsteller: Lea Massari (Clara Chevalier), Benoît Ferreux (Laurent Chevalier), Daniel Gélin (Charles Chevalier), Michael Lonsdale (Vater Henri), Ave Ninchi (Augusta), Gila von Weitershausen (Freda), Fabien Ferreux (Thomas), Marc Winocourt (Marc), Micheline Bona (Tante Claudine), Henri Poirier (Onkel Leonce), Corinne Kersten (Daphne), François Werner (Hubert), Jacqueline Chauvaud (Helene)
Internet
Movie Database:
©
Ulrich Behrens 2005
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