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Das
Herz ist ein dunkler Wald
Wie ein vielleicht emotional etwas unterkühltes,
aber ansonsten durchaus wohlgeordnetes Kleinfamilienleben plötzlich und
unvermittelt aus den Fugen gerät, sich anschließend in einer grotesken
Schussfahrt buchstäblich in Luft auflöst und auf diesem Weg noch jede
Menge Lebenslügen offenbart, zeigt Nicolette Krebitz in ihrem zweiten Spielfilm
„Das Herz ist ein dunkler Wald“. Der Tonfall – eine merkwürdige und durchaus
gewöhnungsbedürftige Mischung aus „Berliner Schule“- Realismus, Theaterprobe
und märchenhaft Surrealem – lässt vermuten, dass es Krebitz um mehr
als die Darstellung eines seltsamen Einzelfalls ging; vielmehr zielt sie offenbar
auf eine abwägende Bestandsaufnahme in Sachen aktueller Geschlechterrollen
ab.
Durch einen fast schon absurden Zufall merkt Marie,
dass ihr Mann Thomas ein Doppelleben führt. Wenn der Musiker sie und die
beiden Kinder am Morgen verlässt, fährt er zu seiner Kollegin Anna,
mit der er ebenfalls ein Kind hat. Die beiden Wohnungen sind verdächtig
ähnlich eingerichtet. Anna dagegen wusste um Marie, für die jetzt
ein Albtraum beginnt, obwohl sie ihre Fassungslosigkeit zunächst immer
noch sehr wohl erzogen artikuliert. Die absurde Verdopplung von Thomas’ Leben,
der an beiden Frühstückstischen mit den jeweiligen Kindern die selben
Späße macht, ist denkbar lakonisch entwickelt und erinnert in ihrer
„alltäglichen Mattigkeit“ atmosphärisch ein wenig an „Montag kommen
die Fenster“ (fd 37 868). Marie will
Thomas zur Rede stellen, doch Gelegenheit dazu bietet sich erst bei einem Maskenball
auf einem heruntergekommenen Schloss, wo Thomas und seine Band für die
Musik zuständig sind. Die Atmosphäre in den alten Gemäuern ist
märchenhaft surreal, lässt an eine kafkaeske Version von „Alice im
Wunderland“ denken und wartet mit allerlei skurrilen Figuren und merkwürdigen
Begegnungen auf.
Erinnerungen an die Heirat von Thomas und Marie mischen
sich mit Erzählungen dritter, die vermuten lassen, dass Thomas schon sehr
lange ein doppeltes Spiel treibt. Auch Maries Vater Valentin, ein Dirigent,
verweigert ihr seine Hilfe und setzt seine Sicht der Dinge schroff gegen ihre.
Welchen Traum von „Normalität“ hat sie bloß all die Jahre an Thomas’
Seite geträumt? Marie verliert rasant den Boden unter den Füßen,
stürzt sich in ein flüchtiges Abenteuer mit dem Lebemann Jonathan
und steht eine Viertelstunde vor Schluss des Films ohne ihre Kleider dar. Buchstäblich
nackt, befreit sie sich von ihrem bisherigen Leben auf die denkbar drastischste
Weise, indem sie – Medea lässt grüßen! – die Gewalt, die ihr
angetan wurde, innerhalb der Familie weiterreicht.
Man kann „Das Herz ist ein dunkler Wald“, der mitunter
an unangenehm theaterhaft zugespitzte, „besonders wertvolle“ osteuropäische
Filmgrotesken der 1960er- und 1970er-Jahre erinnert, überspannt und angestrengt
finden. Insbesondere, wenn man sich in Krebitz’ so erfrischend luftigen „Jeans“
(fd 35 644) ausgesprochen wohl gefühlt hat, wiegt der entschiedene Kunstwille
und auch die geradezu verschwenderisch prominente Darstellerriege (Nina Hoss,
Devid Striesow, Monica Bleibtreu, Günther Maria Halmer, Otto Sander) schwer
und bisweilen prätentiös. Mit dem überflüssigen Kurzauftritt
von Jonathan Meese als Jesus, der trendigen Musik von The Whitest Boy Alive
und der haarsträubend exzentrischen Party auf dem Schloss mit allerlei
Cameos der Berliner Szenegrößen durchzieht eine unangenehme Spur
von „Mitte-Chic“ diesen eigentlich in einem weniger hippen, leicht muffigen
Milieu angesiedelten Film. Andererseits: Lässt man sich auf die Geschichte
und ihre radikale Subjektivierung der Erzählperspektive ein, entdeckt man
darin nicht nur, wenn auch etwas verklausuliert, reichlich Gesprächsstoff
zu Themen wie Familiengründung, postulierter Gleichberechtigung, struktureller
Selbstaufgabe und inkongruenter Kommunikation innerhalb „moderner“ Beziehungen,
sondern auch einen veritablen Krimi über Realitätsverlust. Schließlich
ist Marie gezwungen, sich zu fragen, ob sie ihre eigenen Interessen und Talente
nicht vorschnell einem Traum geopfert hat, wann sie aufhörte, sich für
Thomas zu interessieren, wann Routine und „Bratwurstigkeit“ in ihr Leben einzogen.
Der Entschluss, Kinder in die Welt zu setzen, hat auch etwas mit Verantwortung
gegenüber sich selbst zu tun. Wer glaubt, man könne davon unberührt
einfach immer so weiter leben, täuscht sich gewaltig. In Zeiten, in denen
bald täglich verwahrloste Kinder oder Kinderleichen aufgefunden werden,
stellt Krebitz’ Film auf künstlerisch eigentümliche Weise einige ziemlich
unangenehme Fragen.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-dienst
Das
Herz ist ein dunkler Wald
Deutschland 2007 - Regie: Nicolette Krebitz - Darsteller: Nina Hoss, Devid Striesow, Franziska Petri, Marc Hosemann, Monica Bleibtreu, Otto Sander, Angelika Taschen, Max Herbrechter, Günther Maria Halmer - Prädikat: wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 86 min. - Start: 27.12.2007
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