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Histoire(s)
du cinéma
Die Bilder geben
keine Ruhe
Filmgeschichte als wirbelnde Montage: Die vierteilige
DVD-Edition von Jean-Luc Godards "Histoire(s) du cinéma" will
verstören und überfordern.
Jean-Luc Godard schickt in seinen "Histoire(s)
du cinéma" Botschaften aus einem medialen Zwischenreich. Man sieht
ihn, oder auch: er zeigt sich, Zigarre rauchend, an einer Schreibmaschine sitzend,
tippend. Die Schreibmaschine ist ein Zwischending aus alt und neu, zwar noch
kein Computer, jedoch arbeitet sie mit einem Zwischenspeicher, der den eingegebenen
Text auf ein Mal freigibt, sodass eine charakteristische Verzögerung entsteht
zwischen Schreiben und Anschlag. Das Geräusch dieses ein wenig geisterhaften,
weil zeitlich vom Tippen getrennten Druckens punktiert als Hintergrund Godards
filmhistorischen Essay, der sich, halb handgemacht, halb (einigermaßen)
avancierter Videotechnik verdankt, zur Geschichte, die er erzählt, selbst
in ein Verhältnis der Nachträglichkeit setzt.
Anders gesagt: Vom Nachleben der Bilder, von Nachhall
und Nachbild des Kinos geben Jean-Luc Godards "Histoire(s) du cinéma"
Zeugnis. Der Regisseur hat sein megalomanes Filmgeschichte-Projekt seit den
Siebzigerjahren verfolgt und die endgültige Fassung zwischen 1988 und 1998
erstellt. Nun endlich, da alle Rechteprobleme offenbar beseitigt sind, liegt
der Filmessay vor, auf vier DVDs in zweimal vier Teilen, 260 Minuten, zum Glück
auch in englischer Sprache untertitelt - und zwar klug, weil eher sparsam. Nur
die Hauptstimme in Godards Medien-Collage - oft von Godard selbst gesprochen
- wird jeweils übersetzt, denn der Text soll das Bild nicht vereindeutigen
und arretieren, so wenig, wie er das in der französischen Originalfassung
tut.
Überhaupt geht es Godard beinahe weniger um
die Bilder - und die Töne und die Texte - selbst als um ihr Verhältnis
zueinander. So steckt das Prinzip des Films, der eigentlich ein Video-Werk ist,
noch dazu vom Godard verhassten Fernsehen finanziert, schon im eingeklammerten
(s) seines Titels. "Histoire(s)" - avec un s, avec un s, Godard wiederholt
es aus dem Off immer wieder. Die eine Geschichte des Kinos gibt es nicht, und
schon gar nicht will Godard sie erzählen. Vielmehr überführt
er mit den Mitteln der Collage und der Montage die chronologische Geschichte
in den Plural, in eine Pluralität: der Filmausschnitte, der Töne,
Zeiten, Künste, Assoziationen und Thesen. Er schichtet, im unverkennbaren
filmsprachlichen Idiolekt, den er im Lauf der letzten Jahrzehnte perfektioniert
hat, den Sinn, bündelt ihn in der gelegentlichen Übereinkunft von
Bild und Ton zur These, zerstreut ihn wieder, bewegt sich assoziierend von,
zum Beispiel, dem Hollywood-Oscar zu Oscar Wilde. Nicht immer ist zwischen Scherz
und tieferer Bedeutung, zwischen verblüffender Einsicht und kryptischer
Wirrnis deutlich zu unterscheiden - aber auch das ist Prinzip eher als Schwäche
des Projekts, und zwar aus einem sehr fundamentalen und sehr trotzigen Widerstand
Godards gegen die Hierarchisierung der angeschleppten und aufgehäuften
Materialien heraus.
Der Verzicht auf das Erstellen klarer Hierarchien
suggeriert freilich nicht Gleichrangigkeit. Als größter Meister des
Kinos wird im Strom der Assoziationen Alfred Hitchcock kenntlich, als der, dem
gelang, was Hitler missriet: die Herrschaft über das Universum zu erlangen.
(Ja, Godard als Virtuose der Übertreibung hat auch den einen oder anderen
Auftritt.) Der eigentliche Fluchtpunkt der "Histoire(s)" jedoch sind
der Holocaust, Hitler, das Dritte Reich, der Jugoslawien-Krieg, die Menschheitsverbrechen,
die das Kino nicht verhindert hat. Auch hier geht es Godard nicht um Linearitäten,
sondern um Wirbel, Gravitationskräfte, Wiederholungen, um die Wiederkehr
des Verdrängten, um gespenstische Bilder und geisterhafte Stimmen. Godard
überfordert und verstört sehr gezielt mit den heraufbeschworenen Ausschnitten,
Texten, Tönen; er führt die Geschichte (nicht nur) des Kinos vor als
wirbelnde Montage und Schichtung; er will nicht, dass die Bilder Ruhe geben,
und er ruft sie auch nicht zur Ordnung. Die Wirkung seines monumentalen Essays
ist umso nachhaltiger.
Als Extras sind den DVDs unter anderem zwei Pressekonferenzen
mit Jean-Luc Godard beigegeben sowie die mit Anne-Marie Miéville zum
100. Geburtstags des Kinos erstellte Film-Geschichte "2x50 Jahre des französischen
Kinos". Die DVD-Box ist z.B. über Amazon/Frankreich für ca. 70
Euro zu beziehen.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der: taz
Zu diesem Filmessay von Godard gibt
es im archiv
der filmzentrale mehrere Texte
Geschichte(n)
des Kinos
Histoire(s)
du cinéma
Regie :
Jean Luc-Godard
Frankreich 1988-1998,
Gesamtlänge > 240 min.
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