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Histoire(s)
du cinéma – Geschichte(n) des Kinos
Zu groß für die Leinwand – Jean Luc Godards
Histoire(s) du cinéma
(Anlässlich einer Aufführung im Berliner Kino Arsenal vom
16.12.–23.12.05)
Eine Geschichte des Kinos, die zugleich eine allgemeine
über das „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm) sein will, zehn Jahre Bearbeitungszeit,
über vier Stunden Laufzeit, die wiederum Hunderte von Filmstunden komprimieren,
und der Name Jean-Luc Godard – die bloßen Fakten des Filmessays Histoire(s) du cinéma sind beachtlich und wecken naturgemäß hohe
Erwartungen. Godard antwortet mit einer, wohlwollend formuliert, „sinnlichen
und intellektuellen Herausforderung“ (Pressetext), welche die Grenzen des Kinos
gleich in mehrfacher Hinsicht ausreizt.
Godards Projekt ist im Rahmen einer Zusammenarbeit des
Berliner Kinos Arsenal (Freunde der Deutschen Kinemathek e.V.) und dem Filmbüro
der französischen Botschaft das erste Mal und für nur kurze Zeit (16.12.–23.12.05) im deutschen Kino zu sehen. Lediglich als Rauminstallation
auf
der Documenta
1997 und als Arte-Themenabend war die Kinogeschichte schon einmal in Deutschland
zu bestaunen, eine vielsagende Randnotiz. Denn die Histoire(s) sind kein filmhistoriographisches
Werk, das chronologisch die Entwicklung des Kinos darstellt. Der Ansatz ist
vielmehr ein rein künstlerischer: Hauptsächlich mithilfe von Filmzitaten
und wohl sämtlichen Registern der Montage untermalt Godard die postmoderne
These, dass das von Geschichte bestimmte Kino wiederum selbst Geschichte hervorbringe
– als Erinnerung, als Formen und Bilder, in denen wir an historische Ereignisse
denken. Mit einem solchen Anspruch ist natürlich keine „große Erzählung“
zu Zelluloid zu bringen und so beschäftigt sich Godard ausschließlich
fragmentarisch mit Geschichte und Kino – Auschwitz ist als Bruchstelle ebenso
dabei wie die Nouvelle Vague als Aufbruch oder die fatale beauté als
klassischer Topos des Kinos. Acht solcher Fragmente
bilden das Korpus der Histoire(s), hinzu kommt eine 80-minütige Zusammenfassung,
die durch die neue Montage indes als Kommentar fungiert.
Die Darreichungsform der Godardschen Filmgeschichte ist
keine leichte Kost. Zwischen unzähligen Schlüsselszenen aus amerikanischem
und europäischem Kino, modernen Gemälden (Picasso, Goya, Manet) und
einem klassischen Kanon von E- und U-Musik stellt Godard in hastigen Schnitten,
Ein- und Ausblenden, beschleunigten und verlangsamten Szenen, Kommentaren und
den bekannten Schrifteinblendungen allerlei Bezüge her. Noch während
der Zuschauer all dies zu dechiffrieren versucht, prasseln schon die nächsten
Gedanken Godards auf ihn ein. Eine hilfreiche Eingrenzung erfährt das reichhaltige
Material nicht, im Gegenteil: Von der ursprünglichen, nicht gerade bescheidenen
Frage nach der Geschichte des Films irrt Godard immer wieder ab, kommt zwischenzeitlich
bis zu Gott und der Komplexität des inneren Universums. Das Kino sei eben
mehr als Technik, mehr als Kunst, rechtfertigt er, es sei ein Mysterium. Damit
wohl aber auch ein gedanklicher Overkill, der leicht in gepflegte Langeweile
übergehen kann. Den Meister kümmert’s nicht. Zigarre schmauchend veranstaltet
er etwas Schautippen, sitzt zuletzt nur noch mit Augenschirm und entblößter
Brust vor der Schreibmaschine – ein kurioser Kommentar zur auteur-Theorie?
Histoire(s) du cinéma ist der ehrgeizige und tiefgründige Versuch einer
filmischen Filmgeschichte, kein Filmessay, sondern ein vielschichtiges Filmgedicht.
Godard fordert seinen Zuschauern dabei ein hohes Maß an Wissen und Geduld
ab, vielleicht zu viel, um die überkomplexen Histoire(s) du cinéma sehenswert zu nennen. Untersuchenswert, ja untersuchensnotwendig,
sind sie aber zweifellos. Ob jedoch selbst dies im Kinosaal geschehen kann und
soll, das darf bezweifelt werden.
Thomas Hajduk
Zu diesem Filmessay von Godard gibt
es im archiv
der filmzentrale mehrere Texte
Geschichte(n) des Kinos
Histoire(s) du cinéma
Regie : Jean Luc-Godard
Frankreich 1988-1998, Gesamtlänge > 240 min.
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