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Hölderlin-Comics
Wie
naht man sich unserem Kulturgut Hölderlin, wenn man die ausgetretenen germanistischen
Wanderpfade verlassen will? Die eine Möglichkeit ist, sich in den Jet zu
setzen und des Dichters Suche nach der „Ägypterin offnen Busens" mit
den heute zur Verfügung stehenden Reisemitteln fortzusetzen. Der Film zeigt
uns verschunkelte Amateuraufnahmen von der Charterreise. Sie führt nicht
zum Ziel, wohl aber ins Blau, in dessen „Schule" Hölderlin bekanntlich
gegangen ist. Die mythische Unendlichkeit wird faßbares Material. Damit
kann operiert werden, und zwar genauso, und das ist die andere Möglichkeit
der Annäherung, wie mit dem Text, der sich, in allernächster Nähe
unter der Kamera, selbst zu verfertigen scheint. Die Feder stockt, geht zurück,
hält ein, verbessert, streicht, setzt fort. Wir erleben Impuls und Gegenimpuls,
den Rhythmus des Schreibens, den vitalen Elan des Dichters. Wir sind damit weit
weg vom Analysieren und Interpretieren. Wir sind auf der anderen Seite: auf
der Seite von Bild, Struktur, Rhythmus. John Zorn & Naked City übernehmen
problemlos ihren (musikalischen) Part. Der Film selbst veranstaltet eine Session,
und wenn er sich als Comic vorstellt, dann führt er mit dem irritierenden
Zusatz im Titel all die auf den richtigen Weg, die sich einmal, auch nur probeweise,
vom germanistischen Ballast befreien möchten.
Harald
Bergmann, Germanist, Mitarbeiter der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, Musiker,
Straub-Porträtist, bahnt in diesem Film Hölderlins Feder den Weg.
Der Text geschieht. Otto Sander zuckt einmal mit den Achseln, der Sinn will
sich nicht einstellen. Walter Schmidinger entläßt die Worte körperhaft
seinem Mund, den Text gebärend, und Udo Samel füllt um sich den Raum
mit Strophen, die nicht vergehen wollen. Vom Stakkato über die texteigene
Intonation á la Straub-Huillet bis zum Singsang des mithörenden
Vorlesers strömen die Verse des Dichters dahin, von dem Bettina von Arnim
urteilte, „er brause immer in Hymnen dahin, die abbrechen, wie wenn der Wind
sich dreht". Zum Schluß, kurz vor der Einweisung in die Autenrieter
Anstalt, kratzt die Feder einen Kalenderspruch aufs Papier: „Schöne Gärten
sparen die Jahreszeit." Ein hochfliegender Dichter bescheidet sich.
In
Bergmanns Film wird die zeitgenössische Rezeption auch von den Dichterfürsten
Goethe und Schiller vertreten - über die Texte, die sie sich damals einander
schrieben, ziemlich herablassend und bar jeden Verständnisses für
das wirrköpfige Genie Hölderlin. Goethe & Schiller als Sprechblasentexte.
Das ist komisch, richtig, und gibt Bergmanns HÖLDERLIN-COMICS den angenehm-schrägen,
respektvoll-ironischen Touch, wie ihn ein Publikum á la Volksbühne-Ost
lieben könnte. Denn es gibt bei aller Poesie und Liebe etwas zur unmittelbaren
Identifikation - mit einem, der, 1806, von seinem Freund und Protege, dem Diplomaten
Isaak von Sinclair, verraten und unter dem Namen Holterling ins Irrenhaus gesteckt
wird. Die kalten Texte des Diplomaten, der eine Anklage wegen politischer Verbrechen
zu besorgen hatte, sind von den hymnischen Höhenflügen Hölderlins
denkbar weit entfernt. Bergmann hat in seinem Film die Entfernungen gemessen.
Dietrich
Kuhlbrodt
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in:
Hölderlin-Comics
BRD
1993/94. R und B: Harald Bergmann (nach Texten von Friedrich Hölderlin,
Goethe, Schiller, Bettina von Arnim, Schelling u.a.). P: Alexandra Pohlmeier.
K: Jens Bielefeld, Jörg Bookmeyer, Harald Bergmann. Sch: Harald Bergmann,
Suzan AI-Dhoghachi. M:
John Zorn & Naked City. T:
Volker Zeigermann, Jörg Bookmeyer. Pg: Harald Bergmann. V: Freunde der
Deutschen Kinemathek. L: 2 Teile ä 45 Min. DEA: Berlinale 1994. Termine:
12.6. Filmmuseum Düsseldorf; 14.-17.6. Stadtgarten Köln, 21.6. KK
Stuttgart; 25.6. Metropolis Hamburg; 28./29.6. Arsenal Berlin. D: Udo Samel
(jüngerer Hölderlin), Walter Schmidinger (älterer Hölderlin)
und Otto Sander, Rainer Sellien.
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