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Hölle
Hamburg
Aus dem Schiff, das im Hamburger Hafen liegt, wird
eine Flaschenpost ins Wasser geworfen. Eine Alleinerzieherin auf dem Kai gegenüber
fischt sie auf. Und? Was fängt man als Zuschauer damit an? Ist der Kommunikationsweg
nicht albern? Steht er für vergangene Jahrhunderte? Lachen oder ernstnehmen
oder mit den Schultern zucken? Der Film wartet mit einer Reihe dieser Frag-
und Befremdlichkeiten auf. In etlichen Interviews loben Repräsentanten
der Hafenwirtschaft auf BWL-Chinesisch, wie toll Hafen Hamburg ist. Weltspitzenklasse!
– Wieder die Frage: ist das jetzt Satire? Oder gibt’s die Leute wirklich? Die
Verunsicherung kulminiert. In einer Kabine des verlassen wirkenden Schiffes
reden konspirative Philippinos Parteichinesisch auf plattdeutsch: giv di de
reflektorischen Erregung hin. Und jetzt gibt’s was zu erahnen: die Schiffsbesatzung
ist besessen von Geistern, die sie beschworen hat, nämlich von Residenten
der Marineabteilung der Komintern, die die geheimen Codes und das Agitprop zu
Trancetechniken transformiert. Kapiert? Nein? Aber ich war endlich drin im Film.
Warum eigentlich? Weil der Film mich selbst unversehens in Trance versetzt hatte
und mir die Sprache geläufig wurde, die mir vorher fremd geblieben war.
Warum fasziniert ein Ritual, dessen Sinn man nicht zu packen vermag? Eine Musik,
die ich nicht analysiere, die sich aber meiner bemächtigt. Ted Gaier von
den Goldenen Zitronen verantwortet die ziemlich eigenständige Tonspur des
Films, den er zusammen mit Peter Ott konstruiert hat. Inzwischen weiß
ich, wie komplex das Werk zusammengebaut ist. Die Geschichte der Komintern,
der Gewerkschaften, der russischen Avantgarde, des Kapitalismus. Und was in
der Zentrale Hamburg davon übriggeblieben ist. Es lebe die Dekonstruktion.
– Aber schlau gemacht, habe ich mich hinterher. Meine persönliche Meinung:
die Intentionen der Filmmacher rauszukriegen macht weniger Spaß. Sich
vom Film ergreifen zu lassen, mehr. Jedenfalls in „Hölle Hamburg“. Ich
war im Geisterkaderkollektiv! Großes Erlebnis! Starke Erfahrung!
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: Konkret
Hölle
Hamburg
Deutschland
2007
Regie:
Peter Ott, Ted Gaier
Buch:
Peter Ott, Ted Gaier, Peter Purtschert
Kamera:
Deborah Schamoni
Produktionsleitung:
Jan Peters
Endschnitt
& -dramaturgie: Sandra Trostel
Musik:
Ted Gaier, Peter Ott
Darsteller:
Dschingis Bowakow, Ibrahima Sanogo, Olajide Akinyosoye, Andreas Matti, Martina
Schiesser, Moses Holl, Ted Gaier, Deborah Schamoni, Jens Rachut, Laika, Melissa
Logan, Sid Logan, Matthias Breitenbach, Myriam Schröder, Bill Parton
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