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Hokkabaz
Ein Zauberkünstler und sein
Gehilfe sitzen am Hafen von Istanbul. Der Bosporus glitzert wie eh und
je, die Artisten sind ratlos und schlecht gelaunt. Ihre Show ist abgesetzt.
„Wir müssen spektakulärer werden“, nörgelt der Assistent. Den
alten Leuchtturm, da, am Ufer gegenüber, den müsste man wegzaubern
können. Das ist nun gar kein Problem für „Iskender den Großen“:
Er nimmt seinem Assistenten Maradona einfach die dicke Brille ab. Im Prinzip
ist Zaubern einfach, sagt diese Geste – wenn nur das Publikum die Skepsis an
der Garderobe ablegt, wenn die Leute bereit sind, nach Innen zu schauen, zum
Sitz der Wünsche.
Der „Hokkabaz“, das ist auf gut
Türkisch der Gaukler, der Betrüger. Aber Cem Yilmaz, Autor, Co-Regisseur,
und Hauptdarsteller des Films, meint den Betrüger, der es gut mit den Betrogenen
meint und der so gar nichts von der Grausamkeit und Zerrissenheit des Kraftkerls
Zampano in Fellinis „La Strada“ hat. Iskender ist ein fingerfertiges Dickerchen,
das die Welt stets durch die rosa Brille betrachtet. Besser sollte man von „Glasbausteinen“
sprechen, denn Iskender wie Maradona sind extrem kurzsichtig. Weil auf der Varietébühne
eine „zersägte Jungfrau“ dafür bluten muss, platzt das Engagement
der beiden. Und weil sich das Publikum in Istanbul ohnehin als dumpf und Zauberei-resistent
erwiesen hat, wird flugs ein Tourneeplan aufgestellt. Mit von der Landpartie
ist Iskenders alter Herr, der im benötigten Wohnwagen lebt und das Gehäuse
nicht verlassen will. Während Iskender und Maradona unterwegs Geld für
ihre Augenoperation verdienen und Friedenstauben hervorzaubern wollen, beharrt
Iskenders lebensmüder Vater und Ex-Oberleutnant Sait darauf, auf dem Heldenfriedhof
der Schlacht bei Gallipoli beerdigt zu werden – das liegt auf der Strecke.
Im Kino gibt es nichts Langweiligeres
als das Abklappern altbekannter Stationen, und im genauen Gegenteil liegen
die Stärken von Yilmaz´ Drehbuch, dem er den Stempel des kapriziösen
Stand-Up-Comedians aufprägt – übrigens des populärsten Fernsehkomikers
der Türkei. Yilmaz hält sozusagen jede Menge Hasen im Hut versteckt,
um es seinen Zuschauern unmöglich zu machen, die Hakenschläge seiner
Geschichte vorauszuahnen. Selbst das erwartete Road-Movie bleibt in gewisser
Weise aus, weil der erste Gastspielort des „Großen Iskender“ schon sein
letzter ist: Das Duo wird als Beiprogramm einer dörflichen Trauungszeremonie
engagiert. Und die Dame, die am Hochzeitsabend von der Showbühne verschwindet,
ist ausgerechnet die Braut. Als die schöne Fatma vom Erdboden verschluckt
scheint, klappt ihr düsterer Bruder das Messer auf. Die fliehende Künstlertruppe
wird ihm noch einmal begegnen – und auch Fatma taucht irgendwann wieder auf.
Gespielt wird sie von der bekannten türkischen Sängerin Özlem
Tekin, deren Rolle mehr als einen doppelten Boden hat.
Ebenfalls aus der türkischen
Musikszene stammt Mazhar Alanson, ein Rockmusik-Veteran aus Istanbul, der den
müden Krieger Sait verkörpert. Angefangen mit seinem versuchten Fallschirmabsprung
aus dem fahrenden Wohnwagen wird Alanson zum zentralen Komödianten des
Films, während es ausgerechnet dem Kleinkünstler-Duo an darstellerischer
Magie mangelt. Bis über die Filmmitte hinaus können Cem Yilmaz und
Tuna Orhan dieses Persönlichkeitsmanko noch mit gekonntem Slalom zwischen
Quirligkeit und Understatement wettmachen. Schließlich werden sie mehr
und mehr zu Marionetten einer unreflektierten, auf Überraschungseffekte
setzenden Dramaturgie, die derart ins Lebensferne abdriftet, dass der Zuschauer
das Interesse am weiteren Schicksal der Figuren verliert. Ohnehin zieht sich
das letzte Filmdrittel dann doch ziemlich in die Länge, was ein wenig an
das Endlosband verknoteter Taschentücher erinnert, die ein uninspirierter
Illusionist aus dem Ärmel zieht.
Der Protagonist bleibt leere Mitte,
ein speckgepanzertes, großes Kind. Dass in Iskender eine klammheimliche
Liebe zu Fatma brennt, wird erst zur tragikomischen Finalszene wirklich spürbar,
die Selbstmord- und Rekordversuch in einem darstellt (und ein starkes Kabinettstück
ist): Iskender lässt sich wie einst Houdini in Ketten in einem Wassertank
versenken. Wie ein Embryo hockt er darin, von Maradona vergessen, bis sein Vater
den gläsernen „Brutkasten“ nach langen, atemlosen Minuten zerschlägt.
Iskender wird gleichsam neu geboren. Es ist an der Zeit, die Welt und sich selbst
neu zu sehen. Für den Film kommt das Erwachen der Hauptfigur viel zu spät.
Jens Hinrichsen
Dieser Text ist zuerst erschienen
im: film-dienst 23/2006
Hokkabaz
Türkei
2006 - Regie: Cem Yilmaz, Ali Taner Baltaci - Darsteller: Cem Yilmaz, Mazhar
Alanson, Özlem Tekin, Tuna Orhan, Tuncer Salman, Ayça Abana, Bahtiyar
Engin, Caner Alkaya, Gürgen Öz, Bahri Beyat, Ipek Bilgin - FSK: ohne
Altersbeschränkung - Länge: 123 min. - Start: 26.10.2006
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