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Holunderblüte
Leerer Gegensinn
Volker Koepp begibt sich mit "Holunderblüte"
ein weiteres Mal nach Kaliningrad und trifft auf Kinder, die ihr Glück
suchen.
Das taubstumme Mädchen, eines von vielen Geschwistern,
malt mit Wasserfarben Landschaften. Die Welt, in der sie lebt, zu allen Jahreszeiten.
Mit dem Blick auf das malende Mädchen, das nicht spricht, eröffnet
Volker Koepp seinen jüngsten Film "Holunderblüte". Er ist
ein weiteres Mal nach Ostpreußen gefahren, in den Regierungsbezirk Kaliningrad,
in ein Dorf unweit von Sowetsk, dem früheren Tilsit. Tilsit ist die Geburtsstadt
des großen Dichters Johannes Bobrowski, dem im Jahr 1972 schon Koepps
zweiter Film "Grüße aus Sarmatien" gewidmet war. Einmal
verlässt "Holunderblüte" das verfallende Dorf, zeigt wie
in Sowetsk ein Elch-Denkmal enthüllt wird. Daneben steht ungerührt
und unberührt und als wäre nichts gewesen eine Lenin-Statue. Der sowjetische
Lenin, der ostpreußische Elch, der tote deutsche Dichter Bobrowski und
die russischen Kinder von heute: das kommt zusammen, wenn Volker Koepp hinschaut.
Das malende Mädchen stellt er an den Beginn,
denn sie ist ihm eine Wahlverwandte. Auch der Filmemacher Volker Koepp erschließt
Lebensräume über die Landschaft. Nicht das Gesellschaftliche interessiert
ihn in seinem Funktionieren, sondern der Mensch in seiner Geschichte. Der Mensch
ist für Koepp das aus der Geschichte heraus- und in die Gegenwart hineinragende
Wesen. Die Geschichte in ihrem Vergehen als das Aufeinanderfolgen von Generationen
fasziniert Koepp. Individuen erscheinen in seinen Filmen darum immer als Stellvertreter
und als hineingestellt in die Geschichte von Generationen. Umso eigentümlicher
das Schicksal der Kinder, die der Regisseur in "Holunderblüte"
beim Spielen zeigt und in die Kamera sprechen, vielmehr erzählen lässt.
Das Dorf nämlich, in dem sie leben, es stirbt.
Das zeigen die Bilder von verlassenen, überwucherten Häusern, von
Ruinen und Provisorien. Und davon erzählen die Kinder, wenn sie sich über
die Trunksucht beklagen, die die Erwachsenen, die noch hier leben, fast ausnahmslos
befällt. Die Lebenserwartung ist gering, Zukunftsaussichten gibt es kaum.
Vom Glück sprechen nur die Kinder. Dass sie es wollen, das wissen sie.
Wie sie es bekommen, das ist nicht immer klar. Bereits Schiffbruch erlitten
hat ein Mädchen, das achtzehn ist und in einer Wiese sitzt und von einem
schweren Verkehrsunfall erzählt, der sie zur Invaliden gemacht hat. Einmal
kann sie nicht weitererzählen, schlägt die Arme vors Gesicht. Wir
sehen die Wiese, Gras, Natur, dann sind wir wieder bei ihr. Der Rhythmus der
Bilder schmiegt sich den Menschen an, die sie zeigen.
Rhythmen sind wichtig in Koepps sorgfältig,
aber nie streng komponierten Filmen. Es ist, als atmeten sie ein und dann wieder
aus. Und wenn sie beim Einatmen Worte, Gesichter, Erzählungen und damit
Sinn und Bedeutung in sich aufnehmen, so ist als leerer Gegensinn das sich nicht
aufdrängende Dasein der Natur und des Himmels nicht minder wichtig. In
den Bildern der Landschaft, in den Wolken, die ziehen, den Blättern, die
rauschen, in diesen Bildern, die das Tun und Sprechen der Menschen umfangen,
atmet die Geschichte mal für mal aus. Aus einem Gedicht des Naturdichters
Johannes Bobrowski liest Koepp, die Notwendigkeit dieses Ausatmens sanft unterstreichend,
ohne jedes Pathos gegen Ende des Films selbst.
Sparsam ist insgesamt sein Kommentar, der nur das
nötigste, die historischen Sachverhalte und gelegentlich etwas über
die Gegenwart, erläutert. Ein weiteres Element kommt für diesmal,
recht früh im Film, hinzu. Fritzi Haberlandt liest als Voiceover einen
Auszug aus Hans Christian Andersens Märchen "Mutter Holunder",
in dem sich ein Flug durch die Jahreszeiten und über die Landschaft und
durch das Leben und damit das Werden und Vergehen auf engem Raum fantastisch
verschränken: "Und es war Frühling und es wurde Sommer und es
war Herbst und es wurde Winter und in den Augen und in dem Herzen des Knaben
spiegelten sich Tausende von Bildern und immer sang ihm das kleine Mädchen
vor: Das wirst Du nie vergessen!'" In dieser Passage sind die Motive des
Films präfiguriert und umspielt. Ganz unaufdringlich ist die kompositorische
Raffinesse des Volker Koepp, und nicht zuletzt darin liegt die Großartigkeit
seiner Filme.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist
zuerst erschienen in www.perlentaucher.de
Holunderblüte
Deutschland
2007 - Regie: Volker Koepp - Darsteller: Dokumentation - FSK: ohne Altersbeschränkung
- Fassung: O.m.d.U. - Länge: 89 min. - Start: 24.1.2008
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