Hundstage
In der Hitze des Alltags
Vivisektionen der Spießerseele
Der Striptease ist noch das Harmloseste. Zweieinhalb Stunden lang
sieht man einen grauen Alptraum aus Verrücktheit, Wut, Spießertum,
rohem Sex und nackter Gewalt - und möchte am liebsten gleich wieder
wegsehen. Aber Filme in denen es Zuschauern so ergeht, sind nicht
notwendig die schlechtesten.
Wie selten dominieren in HUNDSTAGE Irritation und Beunruhigung,
die auch den Zuschauer berühren. So oder so ist dieser Film einer
der Höhepunkte des in dieser Hinsicht nicht auffallend reich
ausgestatteten Kinosommers - in seiner Direktheit eines der
intensivsten Kinoerlebnisse seit langem. Der österreichische
Regisseur Ulrich Seidel, bisher durch Dokumentationen (TIERISCHE
LIEBE, MODELS) vor allem einem Festivalpublikum bekannt geworden,
bewegt sich in seinem ersten Spielfilm in den Abgründen des
privaten Österreich.
Ein Film, dem es um nicht weniger geht, als ums Ganze. Wo manche
ältere Filmemacher - Ken Loach, Eric Rohmer - dort wo die aktuelle Condition Humaine zum
Kinothema werden soll, noch bis heute von den Kategorien des
europäischen Humanismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
geprägt sind, versucht es Seidel hier mit dem Gegenteil. Statt sie
neu und aktuell auszubuchstabieren, blendet er sie völlig aus,
nimmt die antihumanistische Perspektive ein, die in der Literatur
von einem Michel Houellebecq, Brat Easton Ellis und wenigen anderen
in den letzten Jahren salonfähig gemacht geworden ist, und zeigt,
wo deren Blick produktiv, also erkenntnisfördernd wird.
Überwiegend mit Laien gedreht, streift Seidel wie ein Ethnologe
der europäischen Suburbia durch Häuser und Straßen eines namenlosen
Vororts, zeigt Menschen, die sich lieben und sich schlagen, die
zuviel und zuwenig reden, im Supermarkt und im Swingerclub - Ficken
und Shoppen als Essenz des modernen Lebens. Seidels auf Anklagen
verzichtende Vivisektionen der Spießerseele bewegen sich an der
Grenze der Zumutung. Hart und kompromisslos sind sie zugleich dort
am stärksten, wo sie sich auf Alltäglichkeit ganz einlassen, diese
mit der strukturalistischen Kühle reiner Beobachtung offenlegen,
ohne sie bloßzustellen oder zu denunzieren. Da kann sich dann auch
der Betrachter nicht mehr wohlgefällig ausschließen. Wo HUNDSTAGE
hingegen ins Extrem abgleitet, auf der Frotteecouch gefoltert wird,
oder einer mit anal eingeführter brennender Kerze die
österreichische Nationalhymne zu singen hat, nähert sich der Film dem zynischen Blick und einer
Effekthascherei, die er im Übrigen vermeidet, und die seine Wirkung
eher verwässert.
Ansonsten belegt HUNDSTAGE, dass Objektivierung nicht notwendig
zur Teilnahmslosigkeit führen muss. Zu spürbar ist in allem Ekel
und der Neugier für das Ekelhafte, für die minderen Abgründe des
Alltags das Leiden des Regisseurs an dem, was er beschreibt, das
Leiden auch an Verhältnissen, die das Erzählen von Geschichten -
zumindest diesem Regisseur - unmöglich machen. HUNDSTAGE, der beim
Venedig-Festival das Publikum spaltete, von der Jury unter Nanni
Moretti aber mit dem (zweitwichtigsten) Spezialpreis prämiert
wurde, balanciert auf der Grenze zwischen Dokumentation und
Fiktion, immer dem Absturz in subjektiven Hass oder in die
Banalität der reinen Abbildung nahe - die der Film doch immer
vermeidet.
Liebe freilich trifft man in diesem wichtigen, herausragenden Film
nur in fratzenhafter Verzerrung - eine ferne Erinnerung, das da
noch etwas war.
Rüdiger Suchsland
Diese Kritik ist zuerst erschienen in:
Zu diesem Film gibt es im filmzentrale-Archiv mehrere Kritiken.
Hundstage
Österreich 2001 - 121 Minuten
Regie: Ulrich Seidl
Kamera: Wolfgang Thaler
Drehbuch: Ulrich Seidl, Veronika
Franz
Besetzung: Maria Hofstätter, Alfred
Mrva, Erich Finsches, Gerti Lehner
u.a.