Es fiel mir schwer, jemandem, der in diesem Film war, am Kinoausgang in die Augen zu
blicken. Ähnlich schien es den anderen Besuchern zu gehen. Der Film hatte mir allen Spaß
verdorben,- in anderthalb Stunden. Ich fühlte mich elend und diffus schuldig. Ich sehnte
mich nach Sinn, nach Religion, nach Transzendenz, nach Verdrängung.
Zu den Dokumentarfilmen von Ulrich Seidl sagte Werner Herzog, er habe im Kino noch
nie einen so geraden Blick in die Hölle erlebt. „Hundstage“ ist Seidls erster Spielfilm, und
wen der nicht krank macht, der ist es schon. Ich kann nicht einmal sagen, ob mein Leiden an
diesem Film sinnvoll ist, also, ob es in mir Antikräfte weckt, ob ich etwas „daraus lernen“
kann. Ich weiß nicht, ob ich verstehe, was ich sah. Ich weiß nur, dass ich mehr erfahren
habe, als mir lieb war. Und ich ahne, das kommt daher, dass der Film nicht nur von
Wirklichkeit handelt, sondern dass er auch danach aussieht, sich so anfühlt, so riecht und so
schmeckt. Der sinnlichste Film seit langem, und gleichzeitig der ekligste.
Hässliche, kranke Szenen erlebt ein wohlbehüteter Junge wie ich manchmal auf Bahnhöfen
und in Fußgängerzonen, im Vorbeigehen. Dumpfe Aggression und Einsamkeit verrät sich
dort durch Blicke, kurze Gewaltausbrüche, Gesprächsfetzen streitender Paare. Leise
schüttelt es mich, aber dann bin ich schon vorbei.
In „Hundstage“ muss ich dabei bleiben. „Hundstage“ spielt in einem Österreich der
Vorstadt, in dessen abgezirkelten Parzellen mit Wohneinheit und Garten stumme, feiste Leute
in der Sonne wie daneben ihr Fleisch auf dem Grill braten. Leute, deren Hass auf das eigene
Leben sie hässlich gemacht hat. Die sich gegenseitig bewachen und verachten: ihre eigenen
Gefängniswärter. Die Nähe durch Sex ersetzt haben, weil ihnen Nähe nur Verletzung
bedeutet. Die Sex mit Sadomasopraxis ergänzt haben, weil er ihnen zu intim ist. Bondage als
Lieblingsbeschäftigung, Brutalität und Geilheit als Volkshobby. Das destruktiv Neurotische
zieht sich durch alle Altersstufen, durch alle Schichten dieser Suburbia. Aber in
„Hundstage“ ist es nicht begleitender Schönheitsfehler, sondern zentraler Antrieb. Das
gestylte junge Paar, er im getunten Mittelklassewagen, sie magersüchtig, beide unfähig,
zwischen Disco und Parkplatz mit ihren Gefühlen umzugehen: sie macht ihn eifersüchtig, weil
sie so ist, wie es von ihr erwartet wird: feminin und stumm. Seine Reaktionen sind männliches
Pendant: körperliche und verbale Gewalt. Jeden Tag macht er Schluss,- bis zum
verzweifelten Versöhnungsfick auf dem Vordersitz. Alle hier gezeigten Beziehungen sind
unlösbare Abhängigkeiten, ein verschroben-autoritärer Rentner mit seiner Hausangestellten,
die für ihn in den Kleidern der verstorbenen Gattin strippt, eine Lehrerin mit ihrem Freund,
dem klebrigen Zuhältertyp, der Unterwerfungsspielchen mit ihr spielt und auch gerne mal
wen dazu mitbringt, ein Akademikerpaar, das nach dem Tod der Tochter kein Wort mehr
miteinander wechselt...Es passt immer irgendwie, Erniedrigung, ob in der aktiven oder
passiven Rolle, bleibt die letzte Form von Leidenschaft, von Lebendigkeit überhaupt. Wenn
nach zwei Tagen sommerlicher Gluthitze der Regen einsetzt, kommen die psychischen
Entladungen. Nicht nur das Moment des Naturereignisses hat „Hundstage“ mit „Short
Cuts“ gemeinsam. Doch neben „Hundstage“ wirkt „Short Cuts“ wie ein
Wellnesswochenende.
„Hundstage“ handelt vom Vegetieren nach dem GAU. In dieser Welt gibt es keine
Hoffnung, keinen Ausweg, keine Sprache mehr, die noch benennen könnte, was nicht
stimmt. Und diese Welt ist gefilmt mit fatalistischem Willen zur Ästhetik des Brechreizes in
der ihr eigenen Choreographie des Trostlosen, Hässlichen, Psychrpathischen, als sei sie die
einzig vorhandene. Ist sie es vielleicht tatsächlich? Die immer wiederkehrende Ordnung der
identischen hässlichen neuen Häuser, Gärten, Swimming Pools (der Hinweis, dass hinter
jeder dieser gleichen Terrassen der gleiche Terror herrscht) deutet darauf hin.
Bei sämtlichen Darstellern ist nicht feststellbar, ob sie sich selbst spielen, ob sie Laien oder
Schauspieler sind. Alle wirken gleich erschreckend real. Dass mindestens zwei Drittel der
Darsteller tatsächlich das sind, was sie spielen: Swingerclubbesitzer, Alarmanlagenvertreter,
hat man geahnt, aber zur Fesselung durch die - ich wage es auszusprechen: - Authentizität,
gesellt sich die Hochachtung vor dem Regisseur, der es schafft, hinter die Haustüren zu
gelangen und dort die Menschen dazu zu bringen, ihr Privatestes zu zeigen.
Offiziell sind gescheiterte Existenzen das Problem verhöhnter Außenseiter in
Fernsehnachmittagstalkshows. Wirtschafts- und Reklamewesen wie wir sind fit wie
Maschinen, flexibel bis zur Ununterscheidbarkeit, sexy bis zur Magersucht, schön bis die
Nase abfällt, trendy bis zur Totalverschuldung, ehrgeizig bis zum Brudermord, und wir
riechen nach kaltem Sieg. Die teilweise moralische Regression ist notwendige Klausel eines
modernen Lebensstils. Mehr denn je grenzen wir die Abweichenden: die Dicken, die
Erfolglosen, die Hässlichen und die Armen aus, weil sie das sind, was wir nicht sein dürfen,
um „on“ oder sonstwo oben zu bleiben. Wir spüren: Sie sind, was wir sein werden, wenn
wir uns nicht mehr beherrschen können. Sie sind das, was in uns auf uns wartet, falls wir das
Spiel der Selbstvermarktung, der Verstellung, nicht mehr mitspielen können. Sie sind wir.
Und wir fürchten uns vor uns selbst. Was ist, wenn wir feststellen, dass unsere
Kommunikation nur noch aus Phrasen besteht, wir uns sowohl von einander, als auch von
uns selbst entfremdet haben? Swingerclub! Die Grenze zwischen gesellschaftlich erwünschter
und diskreditierter Dekadenz ist fließend.
Ist es Zufall, dass Endzeitfilme (Haneke) und –bücher (Jelinek) meistens aus Österreich
stammen? Ist das soziale/private Leben in Österreich wirklich katastrophaler als das in
Resteuropa? Es gibt das Frankreich des Michel Houellebecq, das diesem Österreich sehr
ähnelt. Vielleicht sollte ich mal genauer hingucken, wenn ich über die Straße gehe, denn
vielleicht sind uns Deutschen die Österreicher und Franzosen nur einen ganz kleinen Schritt in
Richtung Regression voraus. Und vielleicht sollte ich probieren zu beten - wenn ich fertig bin
mit Kotzen. Was anderes fällt mir nach „Hundstage“ nämlich nicht mehr ein. Der beste
Film, den ich in diesem Jahr bisher gesehen habe!
Zu diesem Film gibt es im filmzentrale-Archiv mehrere Kritiken.
Hundstage
Österreich 2001 - 121 Minuten
Regie: Ulrich Seidl
Kamera: Wolfgang Thaler
Drehbuch: Ulrich Seidl, Veronika Franz
Besetzung: Maria Hofstätter, Alfred Mrva, Erich Finsches, Gerti Lehner u.a.