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Viel
Lob erntete der semi-dokumentarische neue Film Ulrich Seidls („Tierische Liebe“,
1995; „Models“, 1999) bei der Filmkritik. Der „Spiegel“ hätte dem Film
den „Goldenen Löwen“ gewünscht (er bekam den Großen Preis der
Jury in Venedig), „Blickpunkt: Film“ kann sich vor Begeisterung kaum halten:
„Selten war Kino direkter, brutaler und schockierender – und besser“, ebenso
die „Welt“: „[...] ein Meisterwerk voller Drastik und Komik, Gewalt und Sehnsucht“,
das „mit beiden Beinen im Leben steht“. Auch Ulrich Weinzierl, ebenfalls „Welt“,
ist enthusiasmiert: „Seidls Monstrositätenschau ist, ungeachtet der künstlerisch
notwendigen Zuspitzung, stets aus dem Alltag gegriffen. Die widerlichen, die
armen Schweine, die da zu betrachten sind, sie scheinen uns allesamt vertraut,
ja nahverwandt. Das macht sie so unheimlich, beunruhigend und traurig. Jede(r)
darf/muss sich in der radikalen Spießersatire wiederfinden, als wär's
ein Stück von ihm/ihr.“ Lediglich Katja Nicodemus von der „Zeit“ äußert
Zweifel: „Unwirtlichkeit und Entfremdung sind die in ihrem Erklärungswillen
so ausgehöhlten wie altmodischen Floskeln, die einem bei solchen Szenarien
normalerweise in den Kopf schießen. Seidls Leistung besteht darin, dass
er trotzdem versucht, diesem Zustand nie gesehene Bilder abzutrotzen.“ Aber:
„In ihrer Zusammenballung bekommen Seidls Episoden den Charakter einer zivilisationskritischen
Beweisführung, deshalb wirken die Figuren manchmal nur wie lebende Indizien
der apokalyptischen Weltsicht ihres Regisseurs. [...] Dann scheinen seine Bilder
nicht der Beobachtung des banalen Vorstadtalbtraums zu entstammen, sondern einem
vorgefertigten Arrangement.“ (1)
Also
ein Film, den man mal wieder nur lieben oder nur hassen kann?
Seidl
erzählt – vor allem mit Laienschauspielern – sechs Geschichten, die an
einem Wochenende spielen. Es ist drückend heiß, Hundstage, die Tage
zwischen dem 24. Juli und dem 23. August. Wir befinden uns in einer Vorstadt
von Wien, geprägt von Autobahnzubringern, Einfamilienhäuser, Supermärkten.
Erste
Geschichte: Die Anhalterin Anna (Maria Hofstätter) – verrückt oder
nicht –, jedenfalls sehr selbstbezogen, laut, kein Blatt vor den Mund nehmend,
spricht Leute an, hält Autos an, um mitgenommen zu werden, ohne wirkliches
Ziel. Sie provoziert die Autofahrer mit Fragen wie „Haben Sie in Ihrem Alter
überhaupt noch Sex?“ oder fragt nach den Top-Ten oder den zehn häufigsten
Krankheiten. Die Reaktionen auf sie sind so unterschiedlich wie die Menschen,
die sie mitnehmen.
Zweite
Geschichte: Der Alarmanlagen-Vertreter Hruby (Alfred Mrvas) hat größte
Mühe – erst recht bei dieser Hitze –, seine Sicherheitsvorrichtungen an
den Mann und an die Frau zu bringen. Zudem konnte er bisher einen Auftrag nicht
erfüllen: Er sollte eine Person ausfindig machen, die Autos zerkratzt.
Die Anwohner sind aggressiv, weil Hruby noch keinen Erfolg hatte. Zudem nervt
ihn seine Frau, die ihn ständig anruft, wann er nach Hause komme. Doch
Hruby ist vollauf beschäftigt.
Dritte
Geschichte: Die junge Klaudia (Franziska Weiß) und ihr Freund Mario (René
Wanko) haben enorme Probleme mit der Liebe – vor allem Mario. Kein anderer Mann
darf Klaudia anschauen, geschweige denn mit ihr reden. Eifersucht und Gewalt
bestimmen seine Reaktionen. Nach der Versöhnung, nach dem Sex folgt unweigerlich
die Aggression, die Beleidigung, die Gewalt.
Vierte
Geschichte: Ingenieur Walter (Erich Finsches) hat sich Kontrolle zur Lebensaufgabe
gemacht. Er ist Rentner und überprüft alles, wiegt eingekaufte Waren,
und wehe das Gewicht stimmt nicht mit dem auf der Packung angegebenen überein.
Den Streit der Nachbarn bekämpft er mit seinem Rasenmäher, den er
direkt an der Grundstücksgrenze platziert, wenn es mal wieder laut nebenan
zugeht. Seine Haushälterin (Gerti Lehner) plant er für den 50. Hochzeitstag
ein – mit einem Striptease.
Fünfte
Geschichte: Eine ältere Lehrerin (Christine Jirku) träumt von sexueller
Begierde – mit dem ca. 20 Jahre jüngeren feisten Zuhältertyp Wickerl
(Victor Hennemann). Der jedoch bringt eines Abends seinen Freund (Georg Friedrich)
mit. Der Abend endet in einer Mischung aus Alkohol, Drogen, Sex und Gewalt.
Der Freund Wickerls hat ein schlechtes Gewissen und kehrt am nächsten Morgen
zurück, um sich an Wickerl zu rächen.
Sechste
Geschichte: Eine Ex-Ehefrau (Claudia Martini) und ein Ex-Ehemann (Victor Rathbone)
leben in getrennten Zimmern in einem Einfamilienhaus. Sie reden nicht miteinander,
leben aneinander vorbei, warten, bis der andere auszieht. Die Tochter der beiden
war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Getrennt besuchen beide das
Kreuz an der Unfallstelle. Dann taucht ein Masseur (Christian Bakonyi) bei der
Frau auf. Als beide miteinander die Nacht verbringen und ganz offen vor dem
Mann Zärtlichkeiten austauschen, kommt es zum Streit.
Seidls
Film ist derb, offen, vulgär in der Sprache, wenn es sein „muss“. Er wirkt
fast wie ein getreues Abbild kleinbürgerlicher (österreichischer)
Verhältnisse in einer durch Tristesse, Hilflosigkeit, Sprachlosigkeit und
Verzweiflung gekennzeichneten Umgebung. Durch den Einsatz vor allem von Laienschauspielern,
denen zudem beim Drehen einige Freiheit gelassen wurde, sollte dieser semi-dokumentarische
Eindruck noch verstärkt werden. Maria Hofstätter und Georg Friedrich
sind Schauspieler, Erich Finsches ist Invalidenrentner, war vorher Taxifahrer,
Buffet-Besitzer und einiges mehr. Victor Rathbone ist Marketingexperte, Viktor
Hennemann ist Lokal- und Swingerclubbesitzer und verlangte kein Geld für
seine Arbeit im Film.
Seidl
zeigt Menschen, „wie sie sind“, nicht übertüncht, „gestaltet“, sondern
in ihrer ganzen Blöße und Aggression, in ihren nicht latenten, sondern
ganz offen vorgetragenen und ausgespielten Bedürfnissen, wie immer sie
aussehen mögen – behaupten Seidl und einige Kritiker. Der Film könnte
in dieser Weise oder ähnlich, so Seidl selbst, auch in anderen Vorstädten
anderer Länder Europas oder in den USA spielen. „Nicht nur dort werden
die Menschen immer einsamer, können ihre Sehnsüchte nicht einholen
und nicht lieben. Sie finden kein Glück und wissen nicht, wie sie mit dieser
Situation umgehen sollen. Das ist das Paradoxon, dass in einer Welt, die so
vernetzt ist, der Mensch immer einsamer wird. Wir kommunizieren unaufhörlich,
aber irgendwie werden wir dadurch nicht glücklicher“ (2).
Soweit
der Anspruch. Und Georg Seeßlen ergänzt in seiner Besprechung, in
„Hundstage“ spiele „eine Wirklichkeit sich selbst, bei der längst das Inszenierte
und das Authentische ineinander verschwommen sind“. Seine Kunst bestehe darin,
„in diesem enormen Spannungsfeld von Ästhetik und Wirklichkeit, von Menschen
und Bildern, zu bestehen. Es ist der Punkt, an dem das Kino das Leben angreift“
(3).
Genau
darin besteht für mich das Kritische an „Hundstage“. Auf den ersten Blick
ist man (war auch ich) fasziniert von dem fast schon dokumentarischen Realismus,
noch dazu vor allem von Laienschauspielern in Szene gesetzt. „Hundstage“ bringt
die Realität des Dargestellten hautnah an das Publikum. Ob der Zuhältertyp
die Lehrerin traktiert, der Alarmanlagenverkäufer auf die hundsgemeine
Idee kommt, Anna als Täterin des Auto-Vandalismus zu missbrauchen, der
alte Mann den Rasenmäher gegen streitende Nachbarn einsetzt, sich Autofahrer
gegen Annas provozierenden Wortschwall kaum zur Wehr setzen können oder
der Ex-Ehemann – immer mit einem Tennisball spielend – dem „Treiben“ seiner
Ex-Frau zusieht – das alles vermittelt einen geradezu überschwänglichen
Realismus respektive sich aufdrängenden Realitätsbezug – und ist es
doch nicht.
Einmal
abgesehen davon, dass die sechs Geschichten und ihre Figuren wahrlich nichts
Neues darstellen, erstarren die Personen – auch wenn solche Menschen durchaus
nicht nur vorstellbar sind – in Abziehbildern nach dem Motto: Der Zuhältertyp,
tja, das ist halt der typische Zuhälter, und das war’s. Er „steht“ für
etwas, wie fast alle Personen dieses Films, mit Ausnahme vielleicht von Anna.
Er „steht“ für eine bestimmte Sorte Mensch und das Bild, das sich andere
von ihm machen. Nein, nein, es ist gerade das Manko von „Hundstage“, dass das
vermeintlich Authentische und das Inszenierte nicht mehr auseinander gehalten
werden können. Das Authentische ist zumeist sowieso nur die Vorstellung,
die sich jemand über einen anderen macht: So, jetzt habe ich ihn beim Schlafittchen,
so ist er und nicht anders: authentisch. Das „Echte“, „Wahre“, das „wie es eben
ist“, „wie sie halt sind“ ist die Verschleierung dessen, dass jemand die Vorstellung,
die er über andere oder anderes hat, zur Tatsache erklärt.
Nicht
nur Seidls Film, jeder Film, ja auch jeder Dokumentarfilm ist die subjektive
Inszenierung von Ausschnitten der Wirklichkeit, aber nicht „die“ Wirklichkeit.
Wenn das Authentische erfassbar sein soll, dann nur in einer Art Annäherung
mit allen Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten, die damit verbunden sind.
Das, was Sozialwissenschaftler die „teilnehmende Beobachtung“ nennen, also eine
Forschungsmethode, bei der sich der Wissenschaftler selbst in die zu beobachtende
Gruppe begibt, verändert Wissenschaftler wie Gruppe in ihrem Verhalten
und damit auch die Forschungsergebnisse – das ist hinlänglich bekannt.
Jeder Dokumentarfilmer müsste wissen, wie z.B. Antworten anders ausfallen
oder gar nichts geantwortet wird, wenn die Kamera oder das Tonband dabei sind.
Das „Authentische“, „Echte“, „Unverfälschte“ ist ein Trugbild aus der Mottenkiste
ideologischer, weltbildlicher Grabenkämpfe hier wie dort. „Das Bauerntum“,
„das Arbeitertum“ waren beispielweise Ideologeme sich selbst zur Avantgarde
respektive Elite erklärenden intellektuellen Schichten, die das Wahrheitspostulat
für sich reklamierten und es vielleicht heute in anderer Form noch tun.
Wer entscheidet eigentlich über die Authentizität von Situationen
oder gar Personen? Die Ästhetik, der Wille zum Realismus? Der „Durchblick“?
Seidl
erzeugt nichts anderes als diesen Schein von Authentizität, wenn auch gekonnt
und in mancherlei Hinsicht vielleicht zutreffend. Alle wissen, dass er „etwas“
zeigen will und dass es sein Anliegen ist, was er zeigen will. Von wegen Authentizität!
Es mag sein, dass – wie Seeßlen schreibt – Seidl nicht nur mit Zorn, sondern
auch mit Liebe auf seine Figuren reagiert. Trotzdem fühlte ich mich nur
von einer Person dieses Films wirklich „angezogen“, das heißt berührt:
von Anna, einer wirklich erfundenen Rolle, während Seidl mit den anderen
Personen vortäuscht, dass diese „quasi“ nicht erfunden seien.
Es
geht mir nicht darum zu bestreiten, dass es „solche“ Verhältnisse gibt
– nicht nur in Vorstädten. Was Seidl in aller Ausführlichkeit und
ausschließlich inszeniert (und eben nicht dokumentiert), das ist die Inszenierung
des Dokumentarischen und damit Schein. „Hundstage“ ist – wenn man es böse,
aber nicht unrealistisch sagen will – das Weltbild des Regisseurs, fein säuberlich
arrangiert, über das, was „man“ (also hier: er) „kleinbürgerliche
Verhältnisse“ der Gegenwart nennen könnte. Zu solchen „kleinbürgerlichen
Verhältnissen“, die Seidl konstatiert, behauptet, fixiert und auf diesem
Boden sich entwickeln lässt, gehört aber auch ihre Genese, in biografischer
wie historischer Hinsicht. Davon ist in „Hundstage“ nichts zu verspüren.
Ich meine damit nicht, dass ein Film die Geschichte breit aufrollen müsste,
aber in der Schilderung, Mimik, Gestik etc. pp. müsste diese genetische
Dimension visualisiert oder verbalisiert, erfahrbar sein. Was mich stört,
ist nicht das Weltbild des Regisseurs selbst, sondern die Art, wie es an das
Publikum gebracht wird: als dokumentarischer Beweis für eine unumstößliche,
ja unbezweifelbare Realität. Damit aber macht sich ein Regisseur zum intellektuellen
Führer über die Wahrnehmung von Realität. Und das mag ich nicht.
Ulrich
Behrens
(1)
Teilweise zit. n. www.angelaufen.de
(2)
Gespräch mit Ulrich Seidl in: epd-Film 8/2002, S. 37, hier: 38.
(3)
Besprechung „Hundstage“ von Georg Seeßlen in: epd-Film 8/2002, S. 16 f.
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei: CIAO.de
Hundstage
[Hundstage]
Österreich 2001:
Laufzeit:
121 Min.
Drehbuch:
Ulrich Seidl, Veronika Franz
Regie:
Ulrich Seidl
Darsteller:
Maria Hofstätter, Alfred Mrwa, Erich Finsches, Gerti Lehner, Franziska
Weiß, René Wanko, Claudia Martini, Victor Rathbone, Christian Bakonyi,
Christine Jirku, Victor Hennemann, Georg Friedrich
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