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Identität
Spannung,
bis zum bitteren Ende
Streng
genommen bedeutet Identität: Tod. Rekurriert man auf den in den Sozialwissenschaften
seit Anfang der 70er Jahre inflationär ge- oder missbrauchten Begriff,
der auch von politischen Strömungen aller Art massiv zum Einsatz gebracht
wurde (von der RAF bis zu neonazistischen Gruppen, von konservativen „deutsche
(nationale) Identität“-Fanatikern bis zu alternativ-grünen Parteien
und Zirkeln), muss man resümieren: Identität ist etwas Statisches,
etwas, das einen Zustand, Gegenstand, eine Mentalität oder sonstiges zeitlos
fixieren will. In diesem Sinn ist Identität streng genommen: Tod. Denn
nichts kann dem Zeitraumkontinuum wirklich entfliehen, weil alles sich ständig
verändert.
Was
hat das mit diesem neuen Film von James Mangold zu tun? Wer ihn gesehen hat,
dem wird es schlagartig bewusst, besonders wenn man die Auflösung des Rätsels
um die zehn Menschen in einem einsam gelegenen Motel, abgeschnitten vom Rest
der Welt, kennt.
•
I N H A L T •
Das
Motel scheint nicht besonders stark frequentiert zu werden. Sein Besitzer Larry
(John Hawkes) wundert sich nicht wenig, als bei strömendem Regen – die
Straßen in der Umgebung sind durch reißende Wassermassen inzwischen
größtenteils unpassierbar geworden – ein verzweifelter Mann namens
George (John C. McGinley) mit seiner schwer verletzten Frau Alice (Leila Kenzle)
und dem verstört wirkenden Stiefsohn Timmy (Bret Loehr) in der Rezeption
auftaucht und um Hilfe bittet. Doch das Telefon funktioniert nicht. Schuld an
dem Unfall ist der ehemalige Polizist Ed (John Cusack), der sich momentan damit
beschäftigt, die arrogante und leicht aufbrausende Schauspielerin Caroline
(Rebecca De Mornay) zu Filmaufnahmen zu chauffieren. Als die einmal wieder nervte,
passte Ed nicht auf, und Alice lief ihm direkt vor das Auto. Ebenfalls im Motel
landet die Prostituierte Paris (Amanda Peet), die ein neues Leben anfangen will.
Sie will einen Orangenhain irgendwo bei Los Angeles erwerben. Mit von der Partie
sind das junge Ehepaar Ginny (Clea DuVall) und Lou (William Lee Scott). Ginny
behauptet, sie sei schwanger, aber später gesteht sie Lou, dass sie dies
nur gesagt habe, damit er sie heiratet. Und schließlich trifft der Polizist
Rhodes (Ray Liotta) im Motel ein, der den psychopathischen Mörder Robert
(Jake Busey) in ein Gefängnis bringen soll.
Nachdem
Ed die verletzte Alice notdürftig am Hals genäht hat, ist plötzlich
Caroline verschwunden. Wenig später findet Ed ihren abgetrennten Kopf in
einer Waschmaschine. Gleichzeitig konnte sich Robert aus dem Waschraum, in dem
er von Rhodes angekettet worden war, befreien. Der Verdacht fällt natürlich
auf ihn. Dann allerdings passieren weitere Morde, und auch Robert wird zum Opfer
eines Mörders, den Ed und Rhodes unter Mithilfe von Paris verzweifelt zu
fassen versuchen. Bei den Opfern liegen jeweils deren Zimmerschlüssel.
Der Mörder scheint nach dem Prinzip „Zehn kleine Negerlein“ die Reihenfolge
seiner Opfer auszuwählen. Auch Motelmanager Larry gerät in Verdacht.
Und schließlich scheinen alle zehn Hotelinsassen und Larry am selben Tag
Geburtstag zu haben. Zufall? Wohl kaum.
Und
noch etwas ist merkwürdig: Während die Motelgäste um ihr Leben
fürchten müssen, versucht ein Psychiater (Alfred Molina) einen Richter
(Holmes Osborne) im Beisein des Bezirksstaatsanwalts davon zu überzeugen,
dass der zum Tode verurteilte mehrfache Mörder Malcolm Rivers (Pruitt Taylor
Vince) nicht in die Gaskammer, sondern in die psychiatrische Klinik gehört,
weil er für seine Verbrechen nicht verantwortlich gemacht werden könne.
Doch was hat diese Geschichte mit der im Motel zu tun? ...
•
I N S Z E N I E R U N G •
James
Mangold („Kate and Leopold“, 2001), das kann man wirklich sagen, kommt sofort
zur Sache. Keine Szene dieses Films ist überdehnt, die 90 Minuten scheinen
die „richtige“ Länge für diesen Thriller zu sein, der sich durch eine
Überraschung nach der anderen auszeichnet – bis zum bitteren Ende, an dem
eine Auflösung steht, die so verblüffend wie einleuchtend einfach
erscheint. Sie hat mit dem Titel des Films zu tun. Aber mehr zu verraten, wäre
Sadismus.
Was
„Identität“ neben der düsteren Stimmung in einem von Regenfällen
heimgesuchten abgelegenen Motel des nachts und bei grellem künstlichen
Licht aber vor allem auszeichnet, ist die überraschende feine Zeichnung
seiner Figuren. Da gibt es niemanden, bis in die Nebenrollen hinein, der nicht
als Mensch aus Fleisch und Blut, Herz und Verstand vorgestellt würde. Mangold
und sein Drehbuchautor Michael Cooney („Jack Frost, 1997) beehren sich, die
Opfer nach und nach vorzustellen, von der eingebildeten, hysterischen Diva über
die misstrauische und ständigen Angriffen ausgesetzte Prostituierte, die
von einem anderen Leben träumt, den missgestimmten Cop, den ruhig bleibenden
Ex-Cop, der versucht, bei Verstand zu bleiben, als die Situation bedrohlich
wird, den ängstlichen und hilflosen Familienvater, die ebenso ängstliche
junge Ehefrau und ihren abwesend erscheinenden Mann bis hin zum barschen Richter,
den man aus dem Bett geholt hat, weil ein Psychiater den letzten Versuch unternehmen
will, einem zum Tode Verurteilten vor der Gaskammer zu retten.
Das
Motel wirkt wie eine Falle; jegliche Verbindung zur Außenwelt ist abgeschnitten;
Wasser hindert die Eingeschlossenen daran, die Straßen zu befahren, Handys
funktionieren nicht mehr, das Telefon im Motel ist tot – ein „Panic Room“ (2002,
Regie: David Fincher) anderer Art. Der Mörder zählt die Zimmernummern
herunter, manch Toter scheint nicht einmal ermordet, sondern unfallbedingt ums
Leben gekommen zu sein – und plötzlich sind die Leichen oder das, was von
ihnen gefunden wurde, auch noch verschwunden.
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F A Z I T •
Diese
Mischung aus mystischen Elementen (auf dem Gelände befand sich früher
ein alter Indianerfriedhof; Leichen verschwinden samt Spuren), Figuren, die
fast alle etwas zu verbergen haben, überraschenden Wendungen und Enthüllungen
bis hin zum Finale machen „Identität“ zu einem der spannendsten Thriller
der letzten Jahre. Mangold vermied es, in die abgenutzten üblichen Genre-Klischees
zu verfallen. „Identität“ funktioniert nicht nach dem üblichem Schema
F des Genres, sondern lässt Phantasie und Einfallsreichtum zur Sprache
und zum Bild kommen. Das alles präsentiert Mangold in einer Inszenierung,
in der nichts als zu viel oder zu wenig erscheint. Und der Zuschauer? Der wird
mächtig an der Nase herum geführt. Besser kann man es kaum noch machen.
Wertung:
9,5 von 10 Punkten.
Ulrich
Behrens
Diese
Kritik ist zuerst unter dem Autorennamen Posdole erschienen bei: ciao.de
Identität
(Identity)
USA
2003, 90 Minuten
Regie:
James Mangold
Drehbuch:
Michael Cooney
Musik:
Alan Silvestri
Director
of Photography: Phedon Papamichael
Schnitt:
David Brenner
Produktionsdesign:
Mark Friedberg, Jess Gonchor
Hauptdarsteller:
John Cusack (Ed), Ray Liotta (Rhodes), Amanda Peet (Paris), John Hawkes (Larry),
Alfred Molina (Doctor), Clea DuVall (Ginny), John C. McGinley (George York),
William Lee Scott (Lou), Jake Busey (Robert Maine), Pruitt Taylor Vince (Malcolm
Rivers), Rebecca De Mornay (Caroline Suzanne), Carmen Argenziano (Verteidigerin),
Marshall Bell (Bezirksstaatsanwalt), Timmy York (Bret Loehr), Leila Kenzle (Alice
York), Matt Letscher (stellvertretender Bezirksstaatsanwalt), Holmes Osborne
(Richter)
Internet
Movie Database:
http://german.imdb.com/Title/tt0309698
Weitere
Filmkritik(en):
„Chicago
Sun-Times“ (Roger Ebert) (3 von 4 Punkten):
http://www.suntimes.com/ebert/ebert_reviews/2003/04/042503.html
„Movie
Reviews“ (James Berardinelli) (3,5 von 4 Punkten):
http://movie-reviews.colossus.net/movies/i/identity.html
©
Ulrich Behrens 2003 für
www.ciao.com
www.yopi.de
www.Dooyoo.de
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