zur
startseite
zum
archiv
Identity
Kills
Im Identitätssupermarkt
Improvisation ist kein Selbstzweck, sondern ästhetisches
Programm: Sören Voigt hat für seinen großartigen Spielfilm "Identity
Kills" alle Freiheiten des unabhängigen Filmemachens ausgeschöpft
Das hätten sich die Kulturwissenschaften nicht
träumen lassen. Unter spätkapitalistischen Gesichtspunkten ist Identität
nichts anderes mehr als eine Ware. Auf dem Schwarzmarkt sind persönliche
Datensätze heute bares Geld wert. Werden sie zu hunderttausenden gestohlen
wie im letzten Jahr, als IBM Kanada 180.000 digitale Kundenkarteien einer großen
Versicherung "abhanden" kamen, gilt das sogar als Kapitalverbrechen.
"White Collar Crime" nennen Sicherheitsexperten das am schnellsten
wachsende Kriminaldelikt in der westlichen Welt. Kreditkarten- und Sozialversicherungsnummern,
Verbraucherprofile und behördliche Akten, Facetten einer neuen, globalisierten
Identität, werden enteignet, "entsubjektiviert" und auf Websites
gegen ein Entgelt als reiner Datenwert zur Verfügung gestellt. Die Bits
& Pieces dieser "elektronischen" Identitäten gehen in einen
Warenfluss ein, bereit für neue Träger.
In der analogen Welt suchen derweil jede Menge orientierungsloser
Konsumenten zwischen flashy Werbebotschaften und gut gefüllten Warenregalen
nach so etwas wie einer Identität. Verbindlichkeit. Das Bild mag ein Klischee
sein, aber Sören Voigt hat für den Film "Identity Kills"
seine Symptomatik erkannt. Verstörend ist nicht mehr die lärmende,
bunte Oberfläche, sondern die Tristesse, die dahinter zum Vorschein kommt.
Nicht die freundlich lächelnden Gesichter der Agenten der Güterumverteilung
(der Autoverkäufer, der nette Mann im Reisebüro, die maskenhafte Fratze
der Verkäuferin im Nippesladen, von der die Kamera den Blick nicht abwenden
kann), sondern wie reibungslos der Mensch in diesem Szenario funktioniert.
Voigts einsame Heldin Karen ist aus der psychiatrischen
Klinik, wo sie nach einem Selbstmordversuch einige Tage verbracht hat, gerade
ins Leben zurückgekehrt. Zu Hause angekommen muss sie feststellen, dass
ihr Freund Ben seine Exfreundin in ihrer gemeinsamen Wohnung einquartiert hat.
Die Anonymität der Straße, wohin es sie immer verschlägt, wenn
ihr das Private keine Zuflucht mehr bietet, wird zum Jagdrevier für fremde
Identitäten, in die sie unauffällig schlüpfen kann. Durch Zufall
platzt ein junges Mädchen in ihr Leben, für das sie sich zunächst
bei einem Bewerbungsgespräch ausgibt. Anfangs ist es nur ein Spiel, aber
je offensichtlicher wird, dass sie nicht in der Lage ist, sich ihrer Umwelt
anzupassen, desto mehr sucht sie die Nähe derjenigen, die einem fremden
Lifestyle anhängen. Das Prinzip der Adaption, des Identitätsklaus,
als postmoderne Überlebensstrategie.
Ratlos wandert sie durch Menschenansammlungen ohne
tieferen Sinn, ohne Sinnlichkeit. Voigt hat ein gutes Auge für diesen Zustand.
Wo bloße Repräsentation als Kritik zwangsläufig versagen muss,
setzt er auf dokumentarische Unschärfen. Die Sprache ist unfertig und verletzlich,
die Kamera lapidar. Immer wieder enden Szenen nach langem Schweigen abrupt,
als wäre das Band voll gewesen. Schnitte und Übergänge folgen
keinem filmisch-psychologischen Prinzip mehr. So werden die kleinen psychischen
Verletzungen umso sichtbarer.
Voigts Blick ist jedoch nie wertend; er beobachtet
aus der distanzierten Position eines Menschen, der sich über seine eigenen
Lebenszusammenhänge erst wieder klar werden muss. Die Auseinandersetzung
mit der Lebenswelt verläuft in "Identity Kills" über die
Negation des bürgerlichen Entwicklungsromans. Normalität ist von Beginn
an nicht mehr herstellbar.
Brigitte Hobmeier spielt Karen
mit faszinierender Zurückhaltung. Die Übergänge vom unsicheren
Selbst zur Ersatzidentität verlaufen in Hobmeiers Spiel fließend
und unspektakulär. Schönes Anschauungsmaterial dafür liefert
eine Szene auf einer öffentlichen Toilette, in der Karen sich wie bei einer
Probe in eine neue Situation "einarbeitet". Vor dem Spiegel nimmt
sie mehrere Sprechanläufe, bevor ihr die neuen Rolle passt. Der Zuschauer
wird direkter Zeuge des Adaptionsprozesses. "Die Schauspieler müssen
sich ihre Figuren selbst erfinden", sagt Voigt im Presseinfo zu "Identity
Kills". "Das geht bis in die Mikroebene des Gesprochenen, in Überlappungen,
halbe Sätze, abgebrochene Rede. Wird so etwas als geschriebener Dialog
gespielt, drängt sich sofort die Kunst des Schauspielers in den Vordergrund."
In "Identity Kills" ist das anders: "In unserer Arbeit schiebt
sich dieser Effekt nicht zwischen Schauspieler und Publikum."
Effekte hat Voigts Film nicht nötig. Außer
Hobmeier und Daniel Lommatzsch, der Ben spielt, sind alle Darsteller Laien.
Improvisation ist jedoch kein ästhetischer Selbstzweck. Die konzentrierten
Arbeitssituationen bilden die Widersprüche eines komplexen Lebens genauer
ab, als es ein hegemonialer Produktionsapparat jemals könnte. Mit "Identity
Kills" hat Voigt sich alle Freiheiten des unabhängigen Filmemachens
zunutze gemacht. In seiner brüchigen Rohheit ist "Identity Kills"
schlicht eine kleine Sensation.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der taz
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Identity
Kills
Deutschland
2003 - Regie: Sören Voigt - Darsteller: Brigitte Hobmeier, Daniel Lommatzsch,
Mareike Alscher, Julia Blankenburg, Nicole Krämer, Wicky Kalaitzi, Sybilla
Rasmussen, Michael Wenzlaff, Sabine Beck, Cay Helmich - Länge: 81 min.
- Start: 11.3.2004
zur
startseite
zum
archiv