Idioten
Lalülala,
unser Walter ist da
"Idioten"
- Was hat der Zuschauer vom Sozialexperiment des "Dogma"-Regisseurs
Lars von Trier? Soll er mitmachen? Von Dietrich Kuhlbrodt, der schon mal dabei
war
Idiotenmund
tut Wahrheit kund. Das wissen wir aus Lars von Triers Film "Geister
II".
Die trisomischen Tellerwäscher Morten Rotne Leffers und Vita Jensen, die
dort als einzige den Durchblick hatten, sind bei den neuen "Idioten"
kurz zu Besuch, freundlich, vergnügt. Alle anderen haben es schwer, auf
der Suche nach dem Idioten in sich. Lars von Trier veranstaltet ein soziales
Krisenexperiment, mitten im Villenviertel von Søllerød, denn den
Idioten spielt man am besten Spießern und toleranten Liberalen vor.
Wo
sind die Grenzen im Restaurant, wenn dem Gast Halbverdautes sämig aus den
Mundwinkeln schleimt? Lars von Trier ist in der Kneipe mit der Handkamera dabei,
wenn der Pseudospastiker - Mutprobe! - sich beim Pinkeln von Vollprolls helfen
läßt, den Pimmel aus der Hose zu kriegen.
Wir
sind in einem inszenierten Dokumentarfilm, in dem zickige Hausfrauen idiotischen
Hausierern idiotische Adventsgestecke abkaufen, weil sie denken, das ist korrekt,
während Lars von Trier das Inkorrekte zum Programm gemacht hat, z.B. daß
die Kamera niemals aufs Stativ darf: "Dogma 95" nennt er das Gelübde,
das er zusammen mit Thomas Vinterberg ("Das
Fest")
abgelegt hat. Der einzige feste Boden, den man während des lieben langen
Films unter sich hat, sind die deutschen Untertitel, und deswegen müßte
man dem deutschen Verleih Idioten ins Haus schicken. Denn selbstverständlich
ist der Film bodenlos, er macht aggressiv, man leidet, wenn es peinlich wird,
also immer, aber gerade das gibt den Kick. Man kommt von den "Idioten"
nicht los.
Lars
von Trier hat, dies voraussehend, gruppentherapeutische Sitzungen eingebaut,
in denen nicht nur diskutiert, sondern auch Gruppen-Hardcore-Sex getrieben wird,
wie ihn die FSK bislang noch nie freigegeben hatte. Auch scheint es, daß
die "Idioten" als Anschauungsmaterial für eine zeitlich später
liegende Aufarbeitung dienen: die Evaluation einer gescheiterten Sozialaktion,
so hört sich das im Off an.
Richtig,
die "Idioten" sind ein Lehrfilm. Aber für was? Es ist wie mit
der Schärfe der Kamera, die ruhelos ihr Ziel sucht, während wir unscharf
sehen. "Wofür soll das gut sein?" fragt jemand im Film. Wenn
wir denken, das war wohl wirklich nichts, liefert Lars von Trier gleich das
Gegenargument: "Bei euch zu sein, war das Beste in meinem Leben",
resümiert Karen, unsere Hauptdarstellerin; Bodil Jørgensen rührt
zu Tränen wie im Film zuvor Emily Watson, die Bess in "Breaking
the Waves",
und wir glauben ihr, die schließlich doch die Idiotin in sich rausgekitzelt
hatte, sofort, denn jetzt hat sie was, mit dem sie sich durchsetzen kann. Und
sie tut es. Jeder wird ihr das gönnen, der bis zum Schluß in der
Vorstellung geblieben ist; dennoch wird der Zuschauer, der aus dem Kino kommt,
sich fragen, was er selbst von der Veranstaltung hat.
Soll
der Rezipient sich selbst behindern, versuchsweise? Es wird nicht gehen, denn
abgesehen von der herzergreifenden Bodil
Jørgensen
hat Lars von Trier der Identifikation mit Mitgliedern der Versuchsgruppe vorgebaut.
Die emotionale Temperatur ist lau bis kühl, außerdem scheitern die
Probanden der Reihe nach. Stoffer (Jens Albinus), Chefdogmatiker und Gruppen-Führer,
rennt nackt hinter einem Oberklassen-Wagen her und schreit: "Søllerøder
Faschisten!" O.k., wir haben gesehen, wie die Oberklasse-Nachbarn versuchten,
das vorgebliche Behinderten-Heim, das die Gruppe in Beschlag genommen hatte,
an die Nachbargemeinde loszuwerden: Das war eine heuchlerische, aber mit finanziellen
Angeboten gespickte Kommunalpolitaktion gewesen, selbstverständlich hatte
man gegen Behinderte nichts, aber wieso denn. Also darf man dann doch auf die
Straße gehen und laut seinen Unmut äußern. Aber nackt? Und
war Stalinist Stoffer nicht eher ein Psychosektenanführer?
Regisseur
Lars von Trier führt vor, wie sein Experiment scheitert. Dem einen ist
das Psycho-Experiment nichts weiter als ein Seitensprung. Der andere sammelt
Material für eine Magisterarbeit. Der Künstler verschafft sich kreative
Impulse. Der schüchternen Josephine winkt eine Zweierbeziehung. Die Gruppe,
die Behinderungen probt, löst sich auf. Das Experiment scheitert, aber
eine kommt durch.
Ist
auch der Film gescheitert? Ich glaube nicht. Er bleibt dabei, den vitalen Elan
vorzuführen, mit der eine vorgefundene, unerträgliche Realität,
die als Normalität firmiert, uminszeniert wird. Wer mitmacht, zeigt Stärke
und beweist sich, wie der, der einen Stein ins Wasser wirft und wartet, was
passiert bzw. einen Eimer in die Scheibe und lalülala. Aufs genaue Ergebnis
kommt es nicht an. Das ist selbstredend unverantwortlich, aber allemal unberechenbar.
Die
Unberechenbarkeit als Waffe: Lars von Trier hat das mitnichten expliziert, aber
das Verhaltensmuster funktioniert für alle mit dem kleinen Autoritäts-
und Normalitätsschaden, und davon möchte ich mich nicht ausnehmen.
"Behindert wird man durch Normalität", spricht unser Inszenator,
und wir wissen, wenn wir uns dann doch an den Bürgerschreck-Inszenierungen
erfreuen, daß dies nur ein reaktives Spiel ist. Selber schuld, Nachbarn.
Die Spielregeln sind selbst erfunden.
Trier
unterwirft sich zusammen mit den dänischen Kollegen seiner Regie-Gruppe
einer dringend erforderlichen "Autorität, die ich in meiner humanistischen
und linkskulturellen Erziehung nicht erfahren habe". Dogma 95 ist mehr
als ein Manifest: ein "Keuschheitsgelübde" (Trier), in dessen
Namen in der Gruppensex-Sequenz in Großaufnahme gezeigt wird, wie der
Penis in die Vagina drängt, wozu professionelle Pornodarsteller engagiert
worden sein sollen, was Sünde ist, weil jede über das Spiel der Akteure
hinausgehende Fachkompetenz ausdrücklich untersagt worden war.
Aus
dogmatischen Gründen hatte Trier sich so ziemlich alles verboten, was Ästhetik
und professionelle Normalität des Kinohandwerks ist, womit lustvoller Verstoß,
unkeusches und sündiges Treiben wieder programmiert waren. Man könnte
es aber auch anders sehen und behaupten, daß es ein intellektuelles Spaßvergnügen
ist, zu verfolgen, wie die Impulse gegeneinander laufen: Identifizierung und
Zurücknahme des Einverständnisses, Verfremdung des Normalen im theatralischen
Sozialexperiment. Verfremdungseffekt hätte das möglicherweise ein
längst vergessener Theaterautor geheißen.
Doch
liest man heute, was über den Film "Idioten" geschrieben wird,
läßt sich ausmalen, daß der Zuschauer nicht belustigt, sondern
verwirrt sein wird. Jedenfalls dann, wenn er als Mainstreamkonsument erfolgreich
konditioniert ist, industriell gefertigte Ware abzunehmen. Wir müssen der
Film-, TV- und Medienindustrie zubilligen, daß sie berechen- und quotierbare
Kunden braucht, um ihre aufwendigen Produkte zu vermarkten. Wir verstehen, daß
die Ware auch ästhetisch durchkalkuliert ist und daß eine TV-Zeitschrift
wissen muß, wie sie den Film narrativ präsentiert: Was also ist der
Plot, und wer ist der Held, die Heldin?
In
Triers Film gibt es keinen Plot, und wenn jemand Held ist, dann ist es die Kamera
(Lars von Trier). Mit ihr resp. durch sie gucken wir befremdet, ganz einverstanden,
enerviert, animiert auf dem ganzen Tisch herum und können uns infolgedessen
selber sagen, was wir von Experimentierlust und Scheitern als Chance halten.
Wenn jemand etwas berechnet, dann ist es der Zuschauer, hat er sich denn seine
ureigene Neugier bewahrt.
Lars
von Trier agiert es aus, wie er von der Kinonormalität behindert wird,
und das macht mehr Spaß, als industrielle Berechenbarkeit ästhetisch-handwerklich
überbieten zu wollen. Das hatte er in "Europa"
(1991), dem total durchkonzipierten Film, noch versucht. So daß ich, um
nun auf mich zu kommen, im Kopenhagener Studio von Trier mit den Worten begrüßt
wurde: "Der Film ist fertig."
Ich
war jedoch da, um als Eisenbahninspektor den Schlafwagenschaffner Jean-Marc
Barr in die Pflichten und Verlockungen seines Berufs einzuweisen. Verwirrt legte
ich die Hand um meinen Filmpartner, hinter mir eine riesige Rückpro-Leinwand,
auf der nichts zu sehen war. Trier behauptete jedoch, darauf liefe der fertig
montierte Film ab, die Schauspieler hätten weiter nichts zu tun, als davorzustehen
und ihren Text aufzusagen. Eine Filmrolle, nämlich zehn Minuten lang, Einstellungs-
und Szenenwechsel, üppige definitive Feinarbeit, aber ich war sozusagen
blind, schwer behindert und total konzentriert, diverse Dialogseiten zu rezitieren.
"Nicht schauspielern!" mahnte Trier schon wieder, aber er meinte nicht
mich, ich kann das gar nicht, sondern meinen Schaffner.
Acht
Jahre später weiß ich, was ich sage, was das für ein Stil-,
Strategie- und Waffen-Wechsel ist, wenn das Spiel der Idioten
nicht Ende, sondern Anfang der Produktion ist, und man sieht es der hinterherstolpernden
Kamera an, daß sie dem Unberechenbaren folgt.
Dietrich
Kuhlbrodt
21.
April 1999, Jungle
World
Zu diesem Film und zum Thema Dogma 95 finden Sie u.a. mehr im Archiv bei:
Das Fest (Kritik von A. Thomas)
Idioten (Kritik von G. Seeßlen)
Idioten (Kritik von A. Thomas)
Idioten (Kritik von T. Willmann)
Italienisch für Anfänger (Kritik von A. Thomas)
Lovers (Kritik von R. Suchsland)
Too much Flesh (Kritik von A. Thomas)
"Idioten".
Dänemark 1998. R: Lars von Trier, D: Jens Albinus, Bodil Jørgensen,
Anne Louise Hassing, Paprika Steen.