Die Idioten
Die Nackten und Idioten
Der Schwur der Keuschheit, Dogma 95: Ein Ablegen von Dingen, die
Sicherheit verleihen. Kein Königsweg zur Wahrheit, kein garantierter
Zugewinn an Authentizität. Aber ein paradox befreiendes Korsett - der
Zwang, auf die gewohnten Lösungen zu verzichten.
Bei Thomas Vinterberg in FESTEN (DAS FEST) noch über weite Strecken
eingeklinkt in ein System der Zeichen für "Heimvideo", "Familienfeierfilm".
Um der geradlinigen Geschichte ein Gefühl der Echtheit, Unmittelbarkeit zu
geben.
Bei Lars von Triers IDIOTERNE komplexeres Spiel: Die Apparatur bleibt
ständig im Bewußtsein (als Fremdkörper im Geschehen, aber auch als seine
Grundbedingung: Nur für die Kamera wird agiert) - aufdringlich forciert das
ständige Wackeln der Handkamera; manchmal auch kommt das Filmteam selbst
direkt ins Bild.
Interviewsituationen, aus dem Off die Stimme des Regisseurs als
Fragesteller; Aufbrechen der Chronologie: Im selben Moment, wo die
improvisierende Dogma-Ästhetik uns ein Gefühl des Dabeiseins im
authentischen Augenblick gibt, führt uns IDIOTERNE stets auch die
Inszeniertheit vor.
Es macht sie unbequem, unsere heißgeliebte Rolle des Voyeurs.
Das Anziehen einer Rolle und das Ablegen von Kleidung:
Eine Gruppe von Leuten, die tun als wären sie Geistesbehinderte sind
Protagonisten von IDIOTERNE. Auf der Suche nach ihrem "inneren Idioten" -
vor allem aber nach der Freiheit, nicht Regeln der Gesellschaft gehorchen
zu müssen.
Das Leben ohne Regeln von außen (wenn es das wirklich ist) will
ausgehalten sein. Wie selbstgewählt sind jene neuen Zwänge, in die man sich
begibt? Und wenn sie's sind - machen sie freier, glücklicher? Ein
Dogma-Thema, keine Frage.
Die Schauspieler in IDIOTERNE gehen an Grenzen, überschreiten sie - geben
sich preis. Oft nackt, wo zwangsläufig der Körper des Charakters
unmittelbar der eigene ist. In einer Szene: fette Biker helfen dem
vermeintlich Behinderten beim Pissen auf dem Kneipenklo; die Kamera hält
auf's Detail. In einer anderen: Geburtstagsfeier-Gruppensex, es geht
unleugbar echt zur Sache. Vieles ist nicht mehr als bloßes Spiel zu
verorten.
Die Nacktheit oft auch eine seelische. Man ist gewiß, daß bei den
Dreharbeiten mehr passiert sein muß, als daß da Leute ihren Drehbuchtext
aufgesagt haben. Aber man ist nie sicher: Wo sind die Tränen, wo ist Lachen
oder Wut echt, wo überzeugend vorgetäuscht.
Wo wäre der Unterschied? Müßten wir uns anders zu den Bildern verhalten,
wenn wir wüßten, was in den Köpfen der Menschen auf der Leinwand
tatsächlich vorgegangen ist?
Das Sicherheitsnetz der Konvention: Eines verbindet fast immer den
stromlinienförmigsten Action-Blockbuster mit der obskuren Blüte
cineastischen Undergrounds - beide legen uns deutlich dar, wo wir uns
emotional zu verorten haben.
IDIOTERNE ist eine Ausnahme. Stets schwankender Boden, vermintes Terrain.
Schnell und unberechenbar schlägt er um - hemmungslos albern, zornig,
beklemmend, zärtlich und witzig und nüchtern innerhalb weniger Augenblicke.
Wir noch beim Lachen, wenn's nichts mehr zum Lachen gibt; grundlos den Atem
angehalten, während der Film schon wieder licht und fröhlich ist.
Immer wieder das Gefühl des Ertapptseins, Erschrecken über die eigene
Reaktion.
Der Film provoziert, viel und bewußt. Aber er macht es sich nicht leicht
dabei. IDIOTERNE hat keinerlei Respekt, aber Skrupel. Ein Film ohne die
üblichen Sicherungssysteme. Und ohne fertige Antworten.
Auch uns macht es der Film nicht leicht. Wir müssen selber einen Platz
finden, wo wir zu dem Gesehenen Stehen wollen.
Wovon er handelt, macht er uns letzlich auch zum Geschenk: Verantwortung
und Freiheit.
Thomas Willmann
P.S.: Tun Sie sich einen Gefallen und schauen Sie sich diesen Film nicht
in der Synchronfassung an, die ein Skandal ist, sondern in der
untertitelten Fassung!
(Bevor Sie die "Idioten" gar nicht sehen: Die synchronisierte Fassung kann
dieses Meisterwerk nicht kaputt kriegen – filmzentrale-Herausgeber A.
Thomas)
Diese Kritik ist zuerst erschienen bei:
artechock : FILM- UND KUNSTMAGAZIN
Zu diesem Film gibt es im filmzentrale-Archiv mehrere Kritiken.
Idioten (Idioterne - Dogma 2)
DÄN 1998 - 117 Minuten -
Regie: Lars von Trier
Kamera: Lars von Trier
Drehbuch: Lars von Trier
Besetzung: Bodil Joergensen, Jens Albinus, Anne Louise Hassing, Troels Lyby u.a.