zur
startseite
zum
archiv
In
den Süden
Den älteren Frauen, die in den späten 1970er-Jahren
ihren Urlaub in der gepflegten Hotelanlage „Le Petit Anse“ auf Haiti verbringen,
erscheint dies wie ein Ausflug ins Paradies. Sie sind vergleichsweise wohlhabend,
und die attraktiven, jungen Einheimischen stehen stets zu sexuellen Dienstleistungen
bereit. AIDS ist noch kein Thema. Ellen, 55-jährige Professorin für
französische Literatur aus Boston, bringt es einmal auf den Punkt, als
sie davon spricht, dass eine Frau ihres Alters zu Hause nur noch für typische
Loser interessant sei – oder für Männer, die von ihren Frauen betrogen
werden. Im Vergleich zu den jungen Haitianern erinnern die weißen Männer
vor Ort an „rote Wale“. Ellen hält es mit Françoise Sagan: „Wenn
ich alt bin, werde ich junge Leute bezahlen, mich zu lieben. Denn die Liebe
ist das Süßeste, das Lebendigste und das Sinnvollste vor allen anderen
Dingen.“ Der schönste der einheimischen Liebhaber ist der 18-jährige
Legba, der Frauen wie Ellen oder der frisch geschiedenen Brenda professionell
das Gefühl gibt, noch immer begehrenswert zu sein. Brenda kehrt zurück,
weil sie auf Haiti vor drei Jahren mit Legba ihren ersten Orgasmus erlebte.
Dafür bekommt dieser Geschenke, Mahlzeiten, die relative Sicherheit der
Hotelanlage und vielleicht den Traum, eines Tages die Insel verlassen zu können.
Denn das Leben auf Haiti jenseits der Hotelanlage ist gefährlich: Die Diktatur
von „Baby Doc“ Duvalier geht im Chaos unter, auf den Straßen marodieren
Soldaten, Geheimpolizei und Gangsterbanden, die herrschende Armut ist skandalös.
Regisseur Laurent Cantet gelingt es mustergültig,
das Private (hier: Körper, Sehnsüchte, Gefühle) mit dem Politischen
(hier: Post-Kolonialismus, Kapitalismus, Rassismus, Prostitution) zu verbinden,
ohne dabei in Plattitüden zu verfallen. In seinen früheren Spielfilmen
„Ressources humaines“ (auch „Der
Jobkiller“, fd 34 942) und „Auszeit“
(fd 35 621) hatte er von professionellen wie auch von privaten Rollenkonflikten
erzählt, diesmal wendet er sich gleich drei „Leerstellen“ des westlichen
Imaginären zu: der Frau, dem Anderen (Farbigen) und dem Süden, der
Dritten Welt. „In den Süden“ ist ein Film, dessen Suche nach emanzipatorischen
Blickdramaturgien zur Repräsentation des weiblichen Begehrens und des Anderen
der Zeit verhaftet bleibt, in der er spielt: den späten 1970er-Jahren.
Auch dies könnte erklären, warum Cantet seinen Film in eine historische
Distanz rückt, obwohl dieser dann keinen Ehrgeiz zum Kostümfilm entwickelt.
Dabei argumentiert er nicht etwa thesenartig, fängt vielmehr sehr subtil
die unwirkliche Atmosphäre in der Hotelanlage und ihrer Umgebung ein, deren
Luxus und utopische Libertinage ein Tanz auf dem Vulkan sind. Die Gewalt der
Verhältnisse ist permanent präsent, muss deshalb gar nicht erst explizit
gezeigt werden.
Gleich zu Beginn, als Brenda am Flughafen ankommt,
wird man Zeuge eines Gesprächs zwischen einer Einheimischen und dem Hotelangestellten
Albert, in dem die Mutter darum bittet, ihre 15-jährige Tochter möge
bitte ins Hotel „gerettet“ werden, damit sie nicht eines Tages gewaltsam zum
Lustobjekt der Herrschenden auf der Insel werde. Eine Parallelhandlung zeigt
eine Jugendfreundin Legbas, die zur Mätresse eines mächtigen Mannes
auf der Insel wurde, und belegt so die Wahrscheinlichkeit der mütterlichen
Vorahnungen. Wiederholt wird der Film zeigen, dass Menschenleben auf Haiti nicht
viel wert sind, etwa wenn es Legba nur mit Mühe und Not gelingt, seinen
kleinen Bruder vor bewaffneten Männern zu schützen, die die Bevölkerung
tyrannisieren.
Cantet wertet das, was er zeigt, nicht moralisch,
aber gerade durch die vage Gleichordnung der Beobachtungen gelingen ihm kluge
Bilder für die komplexen emotionalen und sozialen Beziehungen, die hier
verhandelt werden. Prägnante Nebenhandlungen und eingestreute Interview-Passagen
mit den drei Protagonistinnen Ellen, Brenda und Sue vertiefen dabei die Beobachtungen
ins Verallgemeinerbare. Der mehrfach kodierte Film eröffnet eine ganze
Reihe gleichberechtigt schlüssiger Lesarten: Oberflächlich eine Parabel
auf die Globalisierung ebenso wie eine Auseinandersetzung mit dem (Sex-)Tourismus,
ist der Film aber zunächst eine Plattform für die Träume von
älteren Frauen, die auf ihr sexuelles Begehren jenseits von Familie nicht
verzichten wollen. Der Film teilt über weite Strecken deren Perspektive,
weshalb ganze Wirklichkeitskomplexe ausgeblendet bleiben. Erst nach und nach
registriert die Kamera, dass sich im Hotel auch Männer und Paare tummeln;
die Ausflüge nach Port-au-Prince eröffnen bestenfalls Impressionen
einer sozialen Wirklichkeit, zu der die Touristinnen keinen Zugang erhalten
(wollen?). Insbesondere Legba bleibt im Verlauf des Films ein unbeschriebenes
Blatt, eine Person, die lediglich auf die anderen Figuren zu reagieren scheint.
Konsequent erzählt der Film von den komplexen Beziehungen zwischen „zwei
Gruppen von ‚Dominierten‘, die sich gegenüber stehen und ihre Frustrationen
und Sehnsüchte gleichermaßen teilen“ (Cantet).
Die Machtverhältnisse innerhalb dieser Beziehungen
sind fragil und basieren darauf, dass bestimmte Regeln nicht gebrochen werden.
Das Auftreten der Paare in der Öffentlichkeit ist unterkühlt, weil
eigentlich obsolet. Legba wird zwar auf dem Hotelgelände geduldet, im Normalfall
aber vom Personal nicht bedient, ja schlicht übersehen. Dass das, was „Le
Petit Anse“ auszeichnet, einen gewissen Rahmen in der Öffentlichkeit nicht
überschreiten darf, wird klar, als Brenda gleich mehrfach gegen die unausgesprochenen
Regeln verstößt: Als sie sich beim Tanzen an den Rand der Ekstase
treiben lässt, mahnt Legba die Band zur routinierten Rumba; und als sie
mit Legba zum Shoppen in die Stadt fährt, ignoriert sie die geforderte
Zurückhaltung in der Öffentlichkeit. Später lässt sie sich
auf der Suche nach Legba allein durch das Nachtleben der Stadt treiben und landet
gleich beim nächsten Mann.
Der Preis für dieses beschädigte Paradies
ist schmerzhaft: Als eines Morgens Legbas Leiche am Strand gefunden wird, würden
seine trauernden „Freundinnen“ gerne Teil seiner Geschichte sein. Doch der ermittelnde
Polizeiinspektor hat kein Interesse an den kleinen Dramen, die sich zuvor im
Hotel abgespielt haben. Mit dem Satz „Touristen sterben nie!“ verweigert er
den Frauen ihren Platz in der Geschichte und somit generell die Anerkennung
ihrer Existenz. Insofern ist „In den Süden“ (auch) in mehrfacher Hinsicht
eine Gespenstergeschichte. Dazu passt, dass Brenda am Schluss nicht in die USA
zurückkehrt, sondern sich von exotischen Versprechungen wie Guadeloupe,
Bermuda, Belize locken lässt. Wer denkt dabei nicht an Jonathan Harkers
letzten Ritt in die Welt in Werner Herzogs „Nosferatu
– Phantom der Nacht“ (fd 21 118)?
Ulrich Kriest
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: film-dienst
In
den Süden
Frankreich
/ Kanada 2005 - Originaltitel: Vers le sud - Regie: Laurent Cantet - Darsteller:
Charlotte Rampling, Karen Young, Louise Portal, Ménothy Cesar, Lys Ambroise,
Jackenson Pierre Olmo Diaz, Wilfried Paul - FSK: ab 12 - Länge: 105 min.
- Start: 21.9.2006
zur
startseite
zum
archiv