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In
einem Jahr mit 13 Monden
"Jedes
siebte Jahr ist ein Jahr des Mondes.
Besonders
Menschen, deren Dasein
hauptsächlich
von ihren Gefühlen bestimmt
ist,
haben in diesen Mondjahren verstärkt
unter
Depressionen zu leiden, was
gleichermaßen,
nur etwas weniger
ausgeprägt,
auch für Jahre mit dreizehn
Neumonden
gilt. Und wenn ein Mondjahr
gleichzeitig
ein Jahr mit dreizehn Neumonden
ist,
kommt es oft zu unabwendbaren
persönlichen
Katastrophen.
Im
20. Jahrhundert sind es sechs Jahre,
die
von dieser gefährlichen Konstellation
bestimmt
sind, eines davon ist das Jahr
1978.
Davor waren es die Jahre 1908,
1929,
1943 und 1957. Nach 1978 wird
das
Jahr 1992 noch einmal das Dasein
vieler
gefährden."
Ein
Verlorener. Einer, der schwimmt, aber nirgendwo ankommt. Einer, der mit sich
selbst und mit anderen nicht im Reinen ist. Einer, der seine Identität
sucht und nicht finden kann. Elvira hieß einmal Erwin, Erwin Weishaupt.
Erwin war nicht schwul, sondern fühlte sich als Frau. Die große Liebe
zu einem Mann veranlasste Erwin dazu, seine ihn belastende Männlichkeit
abzustreifen, um zur Frau zu werden. Aber die große Liebe war einseitig,
und so floh Erwin / Elvira.
Elvira
(Volker Spengler) ist eine Geschlagene, eine, die viele für einen schwulen
Mann halten, weil sie äußerlich noch wie ein Mann wirkt, obwohl sie
Frauenkleider trägt. Aber darunter verbirgt sich nichts Männliches
mehr. Und als einige Männer dies merken - so beginnt der Film - schlagen
sie Elvira zusammen. Die letzten fünf Tage ihres Lebens bekommen wir zu
sehen.
Nach
einiger Zeit kommt Christoph (Karl Scheydt) nach Hause, mit dem Elvira jetzt
lebt. "Du bist ein Ding. Völlig überflüssig", beschimpft
Christoph Elvira, mit der er bislang zusammenlebte. Elvira fange nichts mit
ihrem Leben an, sei langweilig. Christoph trennt sich von Elvira. Nur der weiße
Engel, die gute Fee, die rote Zora (Ingrid Caven) hat Mitleid mit Elvira - in
diesem Jahr mit 13 Neumonden. Zora, die Prostituierte, legt sich zu ihm, streichelt
ihn, tröstet ihn. Und Elvira erzählt von ihrer Ehe mit Irene (Elisabeth
Trissenaar) und der gemeinsamen Tochter Marie-Ann (Eva Mattes). Gemeinsam durchwandern
Elvira und Zora ein Schlachthaus. Man sieht die Tötung der Tiere und hört
Elvira erzählen und Goethe zitieren. Wie in einem Alptraum durchmisst Elvira
ihr Leben, das weniger wert zu sein scheint wie das der Kühe, die hier
an den Haken hängen, ihr Blut lassen, denen die Köpfe abgeschlagen
werden, denen die Haut abgezogen wird, als wenn es nichts wäre.
Elvira
ist in einem Waisenhaus aufgewachsen, in einem "System der belohnten Lügen",
wie Schwester Gudrun (Lilo Pempeit) es selbst tituliert, als Elvira mit Zora
an die Stätte seiner Kindheit zurückkehrt. Sie erzählt davon,
wie tief enttäuscht Erwin damals war, als seine leibliche Mutter verhinderte,
dass er adoptiert wurde, obwohl sich potentielle Eltern gefunden hatten, die
ihn nehmen wollten.
"So
lebte das Kind lange Jahre
in
einer praktischen Hölle,
zusätzlich
verachtet,
da
er es gelernt hatte,
nicht
zugrunde zu gehen
in
dieser Hölle,
eher
schon, ihre Schrecken
konsequent
zu genießen."
(Schwester
Gudrun über Erwin)
Die
Ehe mit der Lehrerin Irene ging schief. Irene ist es, die Elvira nun schwere
Vorwürfe macht, weil sie in einem Interview mit dem Journalisten Hauser
(gespielt von dem Schriftsteller Gerhard Zwerenz) den Spekulanten Anton Saitz
(Gottfried John) schwer angegriffen hatte. Elvira verspricht, mit Saitz zu reden,
sich zu entschuldigen. Auf dem Weg zu Saitz begegnet Elvira einem Säufer
(Peter Kollek), der sein Leben damit verbringt, vor Saitz Hochhaus zu stehen
und über den skrupellosen Spekulanten zu schimpfen und zu lästern,
und einem Selbstmörder (Bob Dorsay), der sich im leeren 15. Stock jenes
Hochhauses erhängen will, mit Elvira noch isst und ihr mit auf den Weg
gibt:
"Der
Selbstmörder gibt nicht
das
Leben auf, sondern nur
den
Willen zum Leben, das
ihm
seine Erscheinungen
aufzwingt."
Das
Code-Wort "Bergen-Belsen" verschafft Elvira Zutritt zu Saitz, der
aus Langeweile und Überdruss mit seinen Leuten dreimal in der Woche Überfälle
auf sich inszeniert und dem es herzlich gleichgültig ist, was Elvira in
besagtem Interview über ihn geäußert hat, der mit Elvira nach
Hause geht, mit Zora schläft - auch mehr aus Langeweile. Saitz war der
Mann, wegen dem Elvira zur Frau wurde. Saitz war es, der sie fallen ließ.
Niemand
will mit Elvira sprechen, auch der Journalist Hauser nicht, den sie aufsucht.
Elvira schneidet sich schließlich die Pulsadern auf, nachdem ihr auch
Irene bestätigt hat (was Elvira insgeheim längst wusste, obwohl sie
wieder "Mann" sein wollte und die Frauenkleider ablegte), dass ein
Zurück zu Frau und Kind nicht mehr möglich ist. Dieser Tod liegt so
konsequent in Elviras Lebensweg, wie etwas nur konsequent sein kann.
"In
einem Jahr mit 13 Monden" ist ein Horrortrip, für Elvira und für
den Zuschauer. Fassbinder "verpackt" die Geschichte von Erwin / Elvira
in eine Art astrologischen Traum. 1978, eines der Jahre mit 13 Neumonden, muss
das Jahr sein, in dem Elvira stirbt. Diese schicksalhafte Untermauerung der
Geschichte korrespondiert mit dem unterschwelligen Grundton des Filmes, in dem
Elvira / Erwin von allen verlassen wird, in dem keiner ein wirkliches Gespräch
mit ihr führen will, in dem sie weder vor, noch zurück, weder als
Frau, noch als Mann leben kann. Selbst der "Engel", die rote Zora,
kann Elvira nur trösten, ihr aber nicht wirklich helfen.
Elvira
- das könnte der Beckmann aus Wolfgang Borcherts "Draußen vor
der Tür" sein. Dieser Beckmann jedoch, der wusste noch, warum er sterben
wollte. Er hatte einen Grund: den Krieg, den Tod, den Mord, die Gleichgültigkeit.
Aber am Schluss kommt ihm die Erkenntnis:
"Und
die Menschen gehen an dem Tod
vorbei,
achtlos, resigniert, blasiert,
angeekelt
und gleichgültig, gleichgültig,
so
gleichgültig! Und der Tote fühlt tief
in
seinen Traum hinein, dass sein Tod
gleich
war wie sein Leben: sinnlos,
unbedeutend,
grau. Und du - du sagst,
ich
soll leben! Wozu? Für wen?
Für
was? Hab ich kein Recht auf
meinen
Tod? Hab ich kein Recht
auf
meinen Selbstmord? Soll ich
mich
weiter morden lassen und
weiter
morden? Wohin soll ich denn?
Wovon
soll ich leben? Mit wem?
Für
was? Wohin sollen wir denn
auf
dieser Welt! Verraten sind wir.
Furchtbar
verraten."
Beckmann
war verdammt zu leben. Elvira aber, dieser Beckmann der 70er Jahre, diese Unidentifizierbare
der öden Großstadt Frankfurt, die zwischen kleinbürgerlicher
Existenz, sozialer Kälte und Gleichgültigkeit hin- und hergerissen
wird, Elvira scheint keinen Ursprung und kein Ende zu haben. Sie stellt dieselben
Fragen, sie bekommt keine Antworten - wie Beckmann. Und doch ist sie auf gewisse
Art verlorener als er. Der Tod ist für sie die einzige Antwort auf das
Leben. Das Leben hat ihr Stempel aufgedrückt, ohne sie zu fragen.
In
dieser Hinsicht ist Erwin / Elvira ein Produkt der spezifischen Großstadt
der Nachkriegszeit, die den Menschen vor allem einen Stempel aufdrückt:
Gesichtslosigkeit und Geschichtslosigkeit. Geschichte, auch persönliche
Beziehungen, ja selbst Fassbinder und seine Filme selbst, erscheinen nur noch
als Produkt medialer Techniken, wie in der Szene, als Zora bei Elvira - mit
verzweifeltem Gesicht - Fernsehen schaut. Das individuelle Defizit an Ursprung,
Tradition, Herkunft, Charakter ist Produkt einer Epoche, in der Geschichte keine
Bedeutung mehr zu haben scheint. Wie die zum Himmel ragenden Betonklötze
die Vergangenheit haben scheinbar verschwinden lassen, baut sich in den Menschen
Trostlosigkeit und Gleichgültigkeit durch vermeintliche Zeitlosigkeit auf,
die sie zu lebenden Säulen erstarren lässt. Wolfgang Borcherts Beckmann
hatte noch eine Vergangenheit, wenn auch eine grausame, nihilistische. Wer aber
wie Elvira keine Vergangenheit hat, hat auch keine Zukunft. Während Beckmann
zum Leben verdammt ist, ist Elvira zum Tod verurteilt.
In
dem umstrittenen Theaterstück "Die Stadt, der Müll und der Tod"
(1976 unter dem Titel "Schatten
der Engel"
von dem schweizerischen Regisseur Daniel Schmid verfilmt), das wegen angeblich
antisemitischer Tendenzen 1975 abgesetzt worden war und zehn Jahre später
erneut für einen Skandal sorgen sollte, hatte Fassbinder das Thema Großstadt
ebenso aufgegriffen wie die Figur des Anton Saitz (in "Die Stadt ...":
"der reiche Jude"), der das KZ überlebt hatte und sich nach dem
Krieg durch seine Tätigkeit als skrupelloser Spekulant zu rächen suchte.
"Bergen-Belsen" ist das von ihm bestimmte Code-Wort, das nur die kennen,
die Saitz sehr nahe stehen, und das diesen den sofortigen Zutritt zu ihm verschafft.
Während bei Saitz die Vergangenheit über den Code noch lebendig ist,
spielt dies für Elvira keine Rolle mehr. Denn Saitz hat das Interesse an
Erwin / Elvira längst verloren.
"In
einem Jahr mit 13 Monden" ist sowohl eine Abrechnung Fassbinders mit Frankfurt,
das in den 70er Jahren immer sichtbarer zum Prototyp einer kalten, von Geldgeschäften
beherrschten Großstadt mutierte, als auch einer seiner persönlichsten
Filme. Sein langjähriger Freund Armin Meier hatte sich kurz zuvor das Leben
genommen, nachdem Fassbinder sich von ihm trennen wollte. Für den Regisseur
war der Film (bei dem er nicht nur Regie führte, sondern auch das Drehbuch
schrieb und die Kamera führte) ein Zwang, um über diese persönliche
Katastrophe hinwegzukommen, mit ihr leben zu können.
•
D V D •
Sprache:
Deutsch
Bildformat:
1,78:1 anamorph
Ländercode:
2
Untertitel:
keine
Mono
Dolby Digital
Erscheinungsdatum:
11.1.2005
Wie
"Mutter
Küsters’ Fahrt zum Himmel"
und "Faustrecht
der Freiheit"
editierte Arthaus den vorliegenden Film zum 60. Geburtstag des 1982 verstorbenen
Regisseurs in exzellenter Bild- und Tonqualität. Warum der Film immer noch
die Kennzeichnung FSK 18 trägt, ist völlig unverständlich. Bei
DVD-Galaxis kostet die Scheibe € 19,95, bei amazon und jpc ist die DVD aufgrund
der FSK-18-Einstufung nicht zu beziehen.
Neben
einer Fotogalerie, dem Trailer, einer Biografie des Regisseurs auf Texttafeln
und Auszügen aus einem Presseheft enthält die DVD Interviews mit Juliane
Lorenz (20 Min., aufgenommen 2004) und dem Regisseur Werner Schroeter (19 Min,
aufgenommen 2004), der in mehreren Fassbinder-Filmen ("Welt
am Draht",
"Berlin Alexanderplatz" und "Warnung vor einer heiligen Nutte")
als Schauspieler mitwirkte - Interviews, die einigen Aufschluss über die
(auch persönlichen) Hintergründe des Films wiedergeben.
Außerdem
enthält die DVD längere Ausschnitte (45 Minuten) aus einer Podiumsdiskussion
vom 17.6.1992 anlässlich einer Retrospektive und Ausstellung zu Fassbinder,
zehn Jahre nach seinem Tod, an der der Drehbuchautor Peter Märthesheimer
(1939-2004, der die Drehbücher zu "Die
Ehe der Maria Braun"
und "Die
Sehnsucht der Veronika Voss"
schrieb), die Schauspieler Volker Spengler, Elisabeth Trissenaar und Karl Scheydt,
Juliane Lorenz und der Schriftsteller Heiner Müller (1929-1995) teilnahmen.
Insgesamt
eine runde Sache.
Wertung
Film: 10 von 10 Punkten.
Prädikat:
Besonders wertvoll.
Wertung
DVD: 10 von 10 Punkten.
Ulrich
Behrens
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
In
einem Jahr mit 13 Monden
Deutschland
1978, 124 Minuten (DVD: 119 Minuten)
Regie:
Rainer Werner Fassbinder
Drehbuch:
Rainer Werner Fassbinder
Musik:
Peer Raben, Martin Rev, Roxy Music, Alan Vega
Kamera:
Rainer Werner Fassbinder
Schnitt:
Rainer Werner Fassbinder, Juliane Lorenz
Produktionsdesign:
Franz Vacek, Rainer Werner Fassbinder
Darsteller:
Volker Spengler (Erwin / Elvira Weishaupt), Ingrid Caven (Die rote Zora), Gottfried
John (Anton Saitz), Elisabeth Trissenaar (Irene Weishaupt), Eva Mattes (Marie-Ann
Weishaupt), Günther Kaufmann (Smolik, Chauffeur), Lilo Pempeit (Schwester
Gudrun), Isolde Barth (Sybille), Karl Scheydt (Christoph Hacker), Peter Kollek
(Säufer), Bob Dorsay (Selbstmörder), Gerhard Zwerenz (Burghard Hauser,
Schriftsteller)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0077729
©
Ulrich Behrens 2005
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